Liebste Lesende,
herzlich Willkommen auch an die neuen Abonnentinnen und Abonnenten, ich freue mich! Die Neuen bekommen automatisch auch die Donnerstagspost Happy Donnerstag, alle anderen, die zum Beispiel wissen wollen, ob aufgeweichte Kerzen das Licht krümmen, müssen den Empfang in den Einstellungen aktivieren. Weiter unten steht eine Anleitung dazu. Ich wünsche Euch einen herrlichen Sonntag und viel Spaß beim Lesen von Sonntagskind Nr. 117, Angry Knast-Zunge! Schreibt mir gern in den Kommentaren.
P.S.: der Podcast kommt ausnahmwsweise erst heute Nacht, nach meinem Konzert (siehe unten)
Method Writing nachts im Görlitzer Park. Während ein paar Meter weiter Crack verkauft wird und Clanmitglieder gerade ein Opfer fertigmachen, finde ich Inspiration für diese Kolumne. Photo: Martin Peterdamm
Abkürzung nach oben
Ein nicht mehr ganz junger Mann will Gangsta-Rapper werden. „Da musst du natürlich erst mal Gangster werden!” überzeugt ihn seine innere Stimme. Logisch eigentlich. Das passt ihm zwar nicht so recht, denn er ist ein liebenswürdiger Mensch, aber was will man machen. Also: Drogen verticken, mit Schusswaffen Eindruck schinden, Leute bedrohen, Angst einjagen. Schließlich müssen die Songtexte authentisch wirken. Beim Film nennt man das Method Acting, why not!
Mit Anlauf in den Knast
Leider wird er noch vor Beginn seiner Karriere geschnappt. Keine Single mit explicit lyrics auf Spotify, kein Video, in dem er mit einer geklauten S-Klasse posiert und ein paar rattenscharfe Bitches klarmacht, kein Plattenvertrag. Noch nicht mal einen Künstlernamen hat er – und ist schon in Polizeigewahrsam. Vor Gericht gibt er alles zu, seinen ganzen Plan – und geht für fünf Jahre ins Gefängnis. Seine Opfer bittet er um Entschuldigung.
Aus den Bremer Nachrichten vom 9. September 2023
Oberwasser im Untergrund
Ob er es nach seinen Gefängnisjahren nochmal versucht? Vielleicht nennt er sich Reumut 288571 – der Gangstarapper mit Verständnis. Sein Debut-Album heißt: „Ich wollte dir nicht wehtun” mit Tracks wie „Das war ungerecht von mir”, „Ich respektiere dich” und „Vielleicht bist du gar kein Opfer”. Für die romantische Klavierballade „Du musst nicht mit mir schlafen, wenn du nicht willst” kann die Plattenfirma Till Lindemann als Gast einladen, das wäre gutes Marketing. Nach dem Knast braucht der liebenswürdige Kunstkriminelle ja erstmal Geld.
Ich wünsche dem gescheiterten Schurken, dass er hinter Gittern stark bleibt und nicht zerbricht. Haftbefehl, Kontra-K, Gzuz: lernt von dem Mann aus Syke. Die Geschichte hat mich angerührt.
Koksen wie Keith
Ich kann den Mann ein bisschen verstehen: Mit Anfang 20 hat mich ein Mick Jagger-Imitator beauftragt, bestimmte Rolling Stones-Songs für ihn nachzubauen. Heute kann sowas eine App, damals musste alles Instrument für Instrument eingespielt werden. Ich hatte Respekt vor dem Job, das war so gar nicht meine Musik. Ich glaubte an magische Abkürzungen, die meine Seele reif für Stones-Playbacks machten. Genau wie der Wannabe-Verbrecher aus Syke mit der prophylaktischen Kriminalität! Ich dachte: die Stones koksen doch von früh bis spät, das muss ich jetzt auch tun, um den Rock ‘n Roll zu verstehen.
Durch meine guten Verbindungen ins Bremer Nachtleben wusste ich, wer der zuständige Bezirksdrogenhändler war und kaufte bei ihm ein Gramm Kokain. Der Stoff begleitete mich drei Studiotage und -nächte lang, in denen ich versuchte, dem Geheimnis des Stones-Sounds auf die Schliche zu kommen. Hat irgendwie geklappt – der Imitator hatte, was er brauchte, ich musste nicht ins Gefängnis. Ob er noch aktiv ist und jetzt ein Playback für die neue Stones-Single „Angry” braucht?
Die Rolling Stones um den 80-jährigen Mick Jagger zeigen mit „Angry” wieder einmal, dass sie es einfach nicht nötig haben, gute Songs zu schreiben. Sie sind auch ohne Musik die coolste Band der Welt. Sie scheinen Freude zu haben mit ihrer Arbeit.
Rechtsradikale Romantik-Ratschläge
Ob das auch für Dr. Maximilian Krah gilt, den Spitzenkandidaten der AfD für die Europawahl? Der hat einen eigenen Tiktok-Kanal. Dort gibt der vollschlanke Jurist mit der Stromberg-Aura Datingtipps für Jungs: „Jeder dritte junge Mann hatte noch nie eine Freundin. Du gehörst dazu? Schau keine Pornos, wähl’ nicht die Grünen.“ spricht der Sachse mit einem für seine Gesinnung etwas zu laschen Duktus, „geh’ raus an die frische Luft, steh’ zu dir, sei selbstbewusst, guck geradeaus“ motiviert er weiter. Er guckt geradeaus in die Kamera, mit einem Hauch von Großraumbüro im Blick, und einem Touch Inkasso: „Echte Männer sind rechts, echte Männer haben Ideale, echte Männer sind Patrioten, dann klappt es auch mit der Freundin.“
Gerammte Realität
Keine Freundin hat Till Lindemann2 nicht. Vielleicht ist er einer der konsequentesten Künstler der Gegenwart: er weigert sich, an der Realität teilzunehmen und spricht nur durch sein Werk, genau wie vor ihm Michael Jackson, Leni Riefenstahl, Richard Wagner und Pippi Langstrumpf. Im Video zu seinem neuen Song „Zunge” lässt sich der 60-jährige Performancepapst aus Leipzig den Mund zunähen. Vor der OP hat er noch selbstgedichtete Zeilen eingesungen.
Der BDSM-Bariton im Blutbad
In dem über jede Deutung erhabenen Werk erkennt der Poet des Grauens ein Loch im Menschengesicht, das er sogleich als Mund ausmacht und als Organ der Sprache erklärt. Er staunt über die Verbindung des Gedankens zum Wort und feiert die Erkenntnis, dass die Zunge dieses transportieren kann. Linguisten aus aller Welt beißen sich die Zähne an Fragen aus, die Lindemann mit einem gekonnten lyrischen Biss zu Ende kaut. Dann penetriert uns der BDSM-Bariton bis zum Anschlag mit einer dialektischen Poesielanze: „Ich suche Fragen auf jede Antwort” grollt es aus dem von faustischem Erkenntniswahn gepeitschten Deutschen, dessen Karriere manche schon in Scherben sahen. Solche Scherben isst der blutverschmierte Extremunterhalter im Video dann genüsslich auf, mit ein paar Zigaretten dazu.
Wenn meine neuronalen Rezeptoren bei diesen Bildern und dem Brutalosound nicht durchdrehen würden, könnte ich über die herrliche Übertreibung und den bedeutungsschwangeren Spaß, der zwischen den Zeilen und Bildern mitschwingt, bestimmt lachen. Meine Liebe aber gehört heute dem reumütigen Rapper aus Syke.
Sonntagskind ist gratis. Vielleicht ist der Podcast irgendwann kostenpflichtig, erstmal bleibt es aber so. Wer will, kann mir ein bisschen Geld für meine Arbeit zukommen lassen, mit einem eigenen PayPalkonto sogar gebührenfrei. Ich freu mich über jeden Euro – und danke allen, die mich bereits über PayPal unterstützen. Was habe ich für ein Glück! Sonntagskind halt!
Sonntagskind kommt jetzt auch donnerstags! Aus datenmoralischen Gründen kann ich Euch das nicht einfach schicken. Wer Happy Donnerstag auch einmal wöchentlich zugemailt bekommen will, muss das einstellen. In deinen Einstellungen sieht es in etwa so aus wie auf dem Screenshot hier, nur mit deinem Namen. Die kleinen Schalter rechts entscheiden darüber, was du geliefert bekommst.
Mal was Politisches, nur aus Neugier: Stones oder Beatles?
28857: Postleitzahl von Syke
Es kann kein Zufall sein: die Rolling STONES tragen die Zunge als Symbol, Lindemann von RammSTEIN singt von der Zunge. Was ist hier los, Parapsychologie?
Bremerinnen, Bremer! Heute um 18 Uhr spiele ich im Schönebecker Schloss! Sehen wir uns?
Für heute gilt einmal mehr : "Nichts ist unmöglich. "...Vielleicht sollten wir auch endlich mal einen echten Sommerhit komponieren, mit street credibility natürlich !
Ich habe dich gestern beim Konzert im Schönebecker Schloss kennen gelernt, deshalb weiß ich,dass wir uns dutzen.
Klasse war es,stimmungsvoll,sehr persönlich und sympathisch. Die Sonntagsgeschichte hat mir so gut gefallen,dass ich gerne weitere lesen möchte.
Die 2 CDs,die ich mir gestern noch kaufte,habe ich dann gleich den ganzen Abend gehört. Wunderbare Texte. Mach weiter so,Mark,und erfreue uns Hörer und Leser. Liebste Grüße aus Bremen. Karen Buder