Verehrte Sonntagskindlesende, liebe der vornehmen Frühstücksliteratur Wohlgesonnene, hier ist die 120. Sonntagskindkolumne, sie spielt mal wieder im Bahnhofsmilieu; ich wünsche viel Freude und einen herrlichen Sonntag – auch den vielen neuen Abonnenten.
Herzlich aus dem verregneten Westberlin,
Euer Mark Scheibe
Ich bin jetzt 55 und habe mir vorgenommen, kein grantiger alter Mann zu werden. Es ist gar nicht so einfach. Ich spreche immer häufiger von „den jungen Leuten“ und beklage den Verfall des Berufsethos im Dienstleistungssektor. So will ich nicht sein. Ich habe beschlossen, mental aufzuräumen.
Noblesse in Not
Ich habe mich ein paar Mal zu oft als miesepetriger Meckeronkel wahrgenommen, der sich über die Unzuverlässigkeit des erbärmlichen Schneckenunternehmens „Bahn“ echauffiert. Jetzt habe ich die moralhygienische Reißleine gezogen. Ein weiterer Verlust vornehmer Haltung kommt nicht in Frage, Eleganzschwund kann ich mir in meinem Alter nicht leisten – die Fahrlässigkeit einer herzlosen Aktiengesellschaft darf mir nicht die Contenance rauben.
Triebwagen des Terrors
Die Eskalation der Empörung kenne ich: der die Treppe zum Gleis hochhechelnde Trenchcoatmann, der vom Schaffner nicht mehr in den Zug gelassen wird, obwohl die Tür noch offen steht, zum Beispiel: er flucht und schimpft und droht – der Zug fährt ohne ihn, der Trenchcoatmann schreit und ist zum Äußersten bereit. Ich will so nicht sein. Zwar kann ich den Mann verstehen, wenn er dem ICE-Schaffner nachruft, das „Bahnbürschchen” habe einen „Satz heiße Ohren” verdient, aber es widerstrebt meinem Innersten, das Gleis des anständigen Umgangs zu verlassen.
Zeit und Zwang
Auf der Schiene des Furors ist der Zug der Menschenwürde schneller abgefahren, als man zuschlagen kann.
Der meiste Bahnärger entsteht aber nicht bei der Abfahrt, sondern wegen verspäteter Ankunft. Die Trefferquote in punkto Pünktlichkeit liegt derzeit bei etwa 45%. Zeitvertreib made in Germany.
Der fatale Fahrplan
Ein Schweizer Eisenbahner hat mir mal erklärt, dass die Züge zwischen Zürich und Lugano auch deshalb so pünktlich seien, weil ihre Fahrten nicht mit Maximalgeschwindigkeit kalkuliert werden, so wie in Deutschland. Das leuchtet ein! Wenn man die Reisezeit nach der Höchstgeschwindigkeit misst, bremst jede unvorhergesehene Kleinigkeit den Reiseflow. Es gibt keinen Puffer, jede Verzögerung dehnt die Reisezeit gen Unendlich. Meine persönliche Statistik hat eine durchschnittliche Fahrzeitdehnung um ein Drittel ergeben – jeweils mit entsprechenden Effekten:
🚂 Verfinsterung der Laune
🚂 Beginnende Vandalismusneigung
🚂 Pathologische Ohnmachtserlebnisse
🚂 Gewaltphantasien gegen DB-Personal
🚂 Traumatisierung durch Vertrauensverlust
Debakeldämpfung mit dem Drittel-Drive
Nach umfangreichen Berechnungen hier nun mein ultimativer Mindsethack gegen Bahnfrust. Es ist kein Scherz, hier ist der sexy Dritteltrick – ein Beispiel: mein Zug verlässt Berlin Hauptbahnhof um 14:48, in Hamburg steige ich um, dann soll ich um 17:51 in Bremen sein, nach genau drei Stunden und drei Minuten. Diese utopische Reisezeit verlängere ich um ein Drittel, also 1 Stunde und 1 Minute.
Die neu errechnete Ankunftszeit ist also exakt 18.52.
DB-Dialektik
Wenn der Zug dann mit einer halben Stunde Verspätung um zwanzig nach Sechs in Bremen einrollt, kommt er in Wirklichkeit eine halbe Stunde früher an. Die anderen Fahrplanopfer verzeichnen ein steigendes Herzinfarktrisiko. Handgemenge mit DB-Personal und Unflätigkeiten sind die Folge, auch Trotz- und Übersprungshandlungen bis hin zum Sabotieren demokratischer Prozesse. Ich hingegen freue mich, dass ich früher als erwartet am Ziel bin – und entwickele die unwiderstehliche Aura eines Zen-Buddhisten in den besten Jahren, so einfach ist das. Nie wieder Ärger mit der Bahn. Dialektik!
Ich schwöre, es funktioniert – und meine Therapeutin kann sich um wichtigeres kümmern als meinen beginnenden Eisenbahner-Zerstückelungsfetisch zu behandeln.
Ich freue mich sehr über E-Mails, die ich selbstverständlich beantworte. Kommentare sorgen für ein dynamisches Leseerlebnis – und bringen eine literarische Parallelwelt!
Wer möchte, gibt Geld: wenn jeder, der Sonntagskind liest, 50 Cent bezahlen würde, könnte ich jeden Monat eine Woche lang eine Suite im Waldorf Astoria buchen, mit Frühstück.
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Die aktuelle Donnerstagskolumne ist übrigens diese hier:
Wieder so ein schönes Wort" Eleganzschwund". Wunderbar. Danke dafür!! In der letzten Woche war es " retraler Druck". Bin gespannt auf den nächsten Beitrag. LG
Eisenbahner-Zerstückelungsfetisch 😂😂😂 ich fürchte eine Selbsthilfegruppe unter diesem Motto hätte dieser Tage viel Zulauf 🙈😂