Vorweg, liebe Leserinnen und Leser von Sonntagskind, der wöchentlichen Frühstücksliteratur fürs neue Zeitalter: am Ende dieser Kolumne werden Sie wissen, wer die Präsidentschaftswahl in Amerika gewinnt. Aber nun endlich zu den Beautytipps, über einen kleinen Umweg! Warum Beautytipps? Was soll ich machen, ich fühle mich halt besser, wenn ich mich für vorzeigbar halte. „Vorzeigbar“ ist eine Vokabel, die sich mir durch Kontaktanzeigen der 1980er Jahre eingeprägt hat.
„Vorzeigbar“ ist das kleinbürgerliche Minimum, der ästhetische Mindestlohn. Deren weltanschauliche Entsprechung findet sich hierzulande gerade in einem Youtubevideo: In der Karikatur eines Manifestes für deutliche Worte von Thomas Gottschalk auf dem roten Sofa beim NDR. Wie der Altmeister der Fernsehunterhaltung 20 Minuten lang Nebel verbreitet und gleichzeitig vortäuscht, es würde sich durch ihn gesunden Menschenverstand offenbaren, ist die reine Performance-Artistik. Bitte anschauen.
Was Thommy da macht, ist die höchste Darstellungskunst: Behauptung ist alles! Nach dem Studium dieser grotesken Darbietung sah ich plötzlich zwei große gesellschaftliche Strömungen vor mir. Die eine ist auf dem Scheideweg ins Jenseits, die andere tastet sich in die Welt wie ein tapsiger Welpe.
Inhaltlich erfüllt Thommy, der vorgibt, ungefiltert Klartext zu sprechen, nicht einmal die Minimalanforderung der Schulnote 3 Minus. Ich bewerte gerade, das ist nicht sehr elegant. Aber die Dechiffrierung der Note 3 als „befriedigend“ ist ein großes sprachliches Missverständnis.
„Wie geht es Ihnen, Geliebte, nach dieser Jahrhundertorgie gerade eben?“ „Danke, ich bin befriedigt, das war eine glatte 3!“
Hinter „befriedigend“ kommt nach der Illusion, das sei „ausreichend“, meistens „Versetzung gefährdet“, wer soll das verstehen? Kein Wunder, dass die Pisa-Studie zu schiefen Ergebnissen führt, bei dieser turmhohen sprachlichen Ungenauigkeit in der schulischen Bewertung.
Bewerten ist eine eher unsympathische menschliche Spezialität. Ich mache das nur ausnahmsweise, weil ich gerade noch rechtzeitig meine Prognose des Ergebnisses der USA-Wahl platzieren will. Ich mache es genau wie Thommy: Konkret werde ich nur, wenn es gar nicht anders geht. Noch geht es anders:
Kürzlich im Radio, der Moderator einer feuilletonistisch angeleimten Labersendung über Popmusik, sagt zum Experten: „Das neue Album von The Cure, also, mein Eindruck: Positiv, würde ich sagen. Wie ordnen Sie es ein?“ Die Einordnung des Popgelehrten strotzt derart von Wichtigkeit, dass ich mich sofort ganz unbedeutend fühle und das Radio abstelle. Ich habe schließlich noch nicht mal Abitur. Von einer Durchschnittsnote „befriedigend“ hätte ich geträumt, selbst für „mangelhaft“ waren meine schulischen Leistungen gegen Ende zu ungenügend. Damit kann man sich nicht schmücken – und um die schmucke Erscheinung geht es schließlich bei Beautytipps. Und natürlich: die Antwort auf die Frage, wer 47. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wird.
Ich gestehe: ich bin im Sommer 56 Jahre alt geworden. Am ersten Tag meines neuen Lebensjahres stellte ich mich mutig auf die Waage. Die Zahlen sagten: „Versuch erst gar nicht, die alten Anzüge anzuprobieren. Die Hose kriegst du nicht zu und der Knopf am Sakko reißt sofort ab. Hinten steht der Rock ab, als hättest du einen Entenbürzel. Man wird Dich für einen versoffenen Gebrauchtwagenhändler vom Stadtrand halten, der am Wochenende nach Feierabend in einer Tanzband spielt. Du bist eben einer dieser Kerle Mitte 50, die jetzt auch genauso aussehen wie Kerle Mitte 50. Mach dir nichts draus, kaufst du dir halt Hosen mit Gummizug, in 20 Jahren bist Du im Alter von Thommy und Trump.”
Das waren niederschmetternde Worte. Abschiednehmen von der Selbstwahrnehmung als unwiderstehliches Sex-Symbol?
Ich habe alle Möglichkeiten durchgespielt:
1. Den Formverlust hinnehmen, die Auto-Bild abonnieren und nach unbebauten Plätzen in hässlichen Gegenden Ausschau halten, im Internet „Wimpel“ googeln und auf die Anzeige melden: „Die Blue Heartbreakers suchen Keyboarder für niedrigschwellige Schützenfestprogramme mit geschmacklosen Bums-Schlagern, unzureichend geprobten Oldies bei im Laufe der Veranstaltung infolge immensen Alkoholmissbrauchs nachlassender Qualität.“
2. Selbstbetrug: Bauch einziehen, Spiegel meiden und das Selbstbild mit alten Photos täuschen.
3. Suizid: Es ist mir ein bisschen peinlich, aber ich habe eine Pro- und Contra-Liste zum Thema gemacht. Einen Freitod aus Eitelkeit hätte mir jeder zugetraut. Es ist mir zuwider, Erwartungen zu entsprechen, the show must go on!
Die vierte Variante ist die am wenigsten glamouröse, aber sie löst den Titel ein, Beautytipps für mittelalte Männer:
Gemüse, Obst, Reis, Kartoffeln, Ei und Mineralwasser ersetzen Schwarzwälder Kirschtorte, Bestellpizza mit doppelt Käse im Rand, Croissants und schweren Rotwein.
Die Waage spart sich ihre gehässigen Kommentare, Bürzel bleiben in Entenhausen und ich bin auf dem besten Weg, äußerlich das Klischee eines Playboy Spätlese zu erfüllen – damit bin ich unterqualifiziert für den Job bei der Tanzkapelle. Vielleicht versuche ich mich als Sachbuchautor für die große Zielgruppe gleichaltriger Herren mit dem Wunsch, mehr als nur „vorzeigbar” zu sein. Ich habe schon einen Titel: „Klartext im Herbst des Lebens: Wie ich einmal vorraussagte, dass Kamala Harris die erste Präsidentin der USA werden würde.”
Sonntagskind bleibt gratis wie der Klang des Windes. Wer trotzdem Lust verspürt, die Luft mit Währung zu würzen, rennt in der gestressten Metaphernabteilung der Sonntagsredaktion offene Türen ein:
Bis nächsten Sonntag, liebe Freundinnen und Freunde,
Euer
Ach Mark,um dir das Wasser reichen zu können,müßte ich sehr,sehr lange üben!Aber ich werde an mir arbeiten!😃👋
Überzeugend! Und 9we9r verfasst ein ebenbürtiges Pamphlet über die weiblichen Beautytipps? Ursula🐻