Eigentlich ist S-Bahnfahren toll. In Berlin kommt man damit schneller durch die Stadt als mit dem Auto. Und man lernt, wo man lebt: die dauertelephonierende Juristin im Schachtelkostüm steht neben dem Bauarbeiter mit Feierabendbier. Der hat Tunnel-Ohrringe und doziert: der ganze Waggon erhält einen detaillierten und leidenschaftlichen Einblick in die Arbeit mit der Grabenfräse. Da schreckt selbst der wodkabetankte Clubtourist aus seinem Drogenalbtraum auf. Ein Fahrradhelmbär mit Satteltaschenreiserad stemmt sein Fahrzeug wortlos, aber mit gesundem Rechtsempfinden durch die Menge. Die Menge ist mit Starren auf Handbildschirme beschäftigt und macht halbherzige Minimalbewegungen. Der Bär kommt durch. Eine Schülerin schreit ihre Freundin an, dass sie nonbinär und pansexuell ist und vielleicht auch borderline, das muss ein Gutachten klären, dann geht sie in eine Tagesklinik, ruft sie, und dass sie mit dem Ritzen aufhören will, dass sie aber auf jeden Fall weiter kifft, sonst hält sie das nicht aus, weil sie so sensibel ist für Schwingungen.
Das mit den Schwingungen verstehe ich! Als Einzelkind musste ich nie mein Zimmer mit aufdringlichen Geschwistern teilen, warum habe ich also hier kein Abteil für mich alleine? Was machen diese Leute in meinem Privatwaggon? Aus reinem Selbstschutz unterstellt mein Unterbewusstsein den anderen Leuten das Mieseste – und liest ihre Gedanken: die Alte mit dem Finsterblick, die sich an ihrer Handtasche festhält, bildet sich ein, ich würde mich beim nächsten Halt auf ihr Rentnerinnenhartgeld stürzen. Der vierschrötige Balkansöldner mit der Camouflagehose sucht nach einer Gelegenheit, mir ein Messer zwischen die Rippen zu stoßen, weil er mich wegen meiner gepflegten Erscheinung verabscheut. Bedrohung und Gewaltbereitschaft führen meine Unterstellungs-Top-Ten an, ich kann nicht anders. Hilfloser Schrei einer überforderten Seele!
Wahrscheinlich unterstelle ich den Mitreisenden zu Unrecht üble Charakterzüge. Trotzdem fühle ich mich auf meinem Schaukelpferd nicht sicher in dieser S-Bahn.
Besser wäre, im Sinne fürsorglichen Selbst-Entertainments, mit den lieben Mitreisenden kreativer umzugehen, als sie vor der eigenen Edelseele zu Abschaum zu degradieren:
Spaß macht es, wenn man Menschen mit Schlechte-Laune-Gesichtern in der S-Bahn wahllos sexuelle Abgründe andichtet. Dem graumäusigen Kurzarmhemdling mit der Brotdose ordne ich einen Windelfetisch zu. Die Bürofrau mit dem groß gesessenen Arbeitsamtgesäß mache ich zu einer devoten Bondagezofe, die sich an einem Stapel Aktenordner reibt. Der Kontrolleur mit Neuköllner Gangsterattitüde verliert seine antrainierte Gefährlichkeit, wenn er in meiner Vorstellung von seiner Herrin an der Hundeleine durch den Tiergarten getreten wird. Er muss Männchen machen und schlottert, weil er seine Sklavenkarte nicht dabei hat.
Kleine Werbeunterbrechung für meine aktuelle Schallplatte:
„Von der Süddeutschen Zeitung 2021 als „bester Udo-Jürgens-Wiedergänger aller Zeiten!” betitelt, bringt Mark Scheibe mit Charme, Grandezza und provokant feinsinnigen Texten die Augen eines Publikums zum Leuchten, das lieber Champagner als Bier trinkt und das Theater dem Fußballstadion vorzieht.”
Auch der alltägliche Transport ist in Gedanken von seiner Belanglosigkeit zu befreien: die ganze S-Bahn ist nichts anderes als ein gigantischer Phallus, der sich durch die enge Untergrundröhre dieser notgeilen Stadt penetriert. Dauererregt vibriert das stählerne Gleisbett unter dem unnachgiebigen Hineinstoßen der monströsen Waggonlatte. Zahllose offengespreizt herumliegende Bahnhöfe empfangen die harten Schübe des mit Verlangen ins Innere der Station pulsierenden Stahlgefährts. Eigentlich ist S-Bahnfahren toll.
Leserin Rheese schreibt: “Sehr schöne Kolumne - beim letzten Absatz hätte ich mir allerdings einen weniger gewaltvollen Phallus-Zug und mehr selbstbestimmte und aktive Vulva-Bahnhöfe gewünscht.”
Liebe Rheese, ich verstehe Sie! Hier eine andere Perspektive:
Auch der alltägliche Transport ist in Gedanken von seiner Belanglosigkeit zu befreien: die ganze S-Bahn ist nichts anderes als eine riesige Vulva: nass, heiß und eng. Wir Fahrgäste genannten Sextouristen in unserer eigenen Stadt bilden an jedem Bahnhof, an jeder dieser Lusthöllen, einen gemeinsamen Schwellkörper, der mit gewaltigem Druck die Öffnungen des wahren Geschlechts der Stadt flutet. Mit all unserer seelischen Härte, die uns Pornopassagiere verbindet, ruckeln wir den glitschigen Schacht unseres eigenen Untergrundes entlang und vergessen im Augenblick, da sich die Gummilabien der stöhnenden Tür schmatzend auseinanderspreizen, und wir wie ein Schwall urbanen Sekrets auf das schmutzige Steinlaken eines beliebigen Stadtbahnhofs gesquirtet werden, unser ereignisarmes Tagesleben.
Love it 👏👏
Sehr schöne Kolumne - beim letzten Absatz hätte ich mir allerdings einen weniger gewaltvollen Phallus-Zug und mehr selbstbestimmte und aktive Vulva-Bahnhöfe gewünscht.