Bitte nicht stören
Eine Kolumne über das Schreiben – und die stille Revolte gegen das große Verstummen
Bitte nicht stören, ich muss feiern.
Hier ist die 190. Sonntagskind-Kolumne. Ich müsste jetzt eigentlich ein Gläschen Champagner heben, die Torte anschneiden, ein Selfie machen, „Danke für 190-mal Sonntagskind!“ posten. Aber irgendetwas in mir weigert sich. Nicht, weil 190 eigentlich kein richtiges Jubiläum ist. Nicht, weil mir nicht festlich zumute wäre – mir ist jeder Anlass recht, die roten Glühbirnen reinzuschrauben, die Discokugel anzuwerfen und die LP mit Strauss-Walzern aufzulegen.
Dass ich seit fast vier Jahren jeden Sonntag einen Text veröffentliche, ohne dass jemand danach verlangt hätte, ist Grund genug für eine kleine Party. Aber was feiere ich hier eigentlich?
Kein Redaktionsschluss, kein Vertrag, kein Druck von außen – und trotzdem: Ich tue es jede Woche. Auch dann, wenn ich nichts zu sagen – oder besser: zu fragen habe. Oder zu viel. Oder wenn der innere Sklaventreiber ganz sicher ist, dass mein Bemühen vollkommen sinnlos ist.
Warum also?
Vielleicht, weil es eine Art literarisches Zähneputzen ist. Eine Routine, die den Gedanken reinigt. Vielleicht auch, weil ich erst beim Schreiben herausfinde, was ich wirklich denke. Oder weil ich in einem Anflug größenwahnsinniger Selbstüberschätzung glaube, dass in mir eine Wahrheit schlummert, die an die Oberfläche drängt wie eine Champagnerperle im Glas.
Vielleicht schreibe ich, weil ich damit nachweise, dass es mich gibt.
Natürlich gibt es leichtere Wege, sich mitzuteilen. Ich könnte TikToks machen, in denen ich Beautyprodukte für die Männerhaut ab 50 teste oder die 7 besten Lifehacks gegen Selbstzweifel präsentiere. Ich könnte KI-generierte Motivationssprüche auf Instagram posten – verträumt mit Schreibblock und Füller und Selfie am Wasserfall. Aber wie trist wäre das!
Ich bin kein Gigolo, kein Guru, kein digitaler Dauermotivator. Ich bin ein Mensch mit Klavier und Komplexen.
Schreiben ist auch ein Versuch, in dieser Welt nicht verloren zu gehen. Aus dem Lärm des Alltags eine Melodie zu komponieren.
Natürlich bin ich auch eitel. Ich liebe schöne Formulierungen wie andere Leute teure Versace-Hemden. Ich poliere Sätze, als wären sie Silberbesteck. Und ich weiß, dass sich diese Kolumnen nicht verkaufen. Dabei schaue ich neidisch auf die big player unter den Kolumnisten, die in den großen Zeitschriften ein Millionenpublikum unterhalten. Nur dort, in den aufgeräumten Feuilletons, hat Nachdenklichkeit einen Marktwert. Im schnellen, wilden Internet bietet man besser Abkürzungen an: Schnell reich werden, über Nacht 10.000 Follower bekommen, ein Buch in 30 Minuten lesen.
Manchmal gibt es Resonanz: Dann schreibt mir jemand, den ich nicht kenne: „Genau so geht’s mir auch.“ Und ich weiß, die Mühe war nicht umsonst.
Vielleicht ist das schon alles. Vielleicht ist Schreiben nur das: eine kleine Geste gegen das große Verstummen.
Also mache ich weiter. Nicht aus Disziplin, sondern aus Trotz. Nicht, weil ich muss – sondern weil ich kann. Weil in dieser schiefen, schnellen Welt jede Form von Beständigkeit eine kleine Revolte ist. Weil mir die Vorstellung gefällt, dass Rainer seiner Frau Regina jeden Sonntag meine Kolumne zum Frühstück vorliest. Weil mir Cora immer so schön durchgeknallte Mails ohne Punkt und Komma schickt – und ich spüre, dass ich sie erreicht habe. Weil Hannes mir aus seiner ganz eigenen Welt manchmal zurückwinkt. Weil es mich rührt, dass mir Ursula in ihrem Jetsetleben zwischen Filmsets und Theaterbühnen fast jeden Sonntag schreibt, wie sehr sie sich beömmelt über irgendein neu erfundenes Wort von mir.
Vielleicht ist jede Kolumne wie ein gemeinsames Hotelzimmer: Für eine Nacht voller Gedanken – und am Morgen steht die Realität mit Staubsauger im Flur.
Ich hänge das Schild raus: „Bitte nicht stören.“ Noch nicht.
Sonntagskind on stage: Bremerinnen, Bremer:
Am kommenden Samstag, dem 24. Mai, findet die Lange Nacht der Museen statt. Ich habe die Freude, in Bremens Bildhauereimuseum, dem Gerhard-Marcks-Haus, um 20 Uhr und um 22 Uhr je eine 20-minütige Show zu spielen. Ich freue mich, wenn wir uns dort sehen.
Bei mir ist ein Vorteil am Schreiben auch, dass ich die lieben Menschen um mich herum ein Bisschen vor meinem Gelaber verschone - also eine Pause für sie
Lieber Mann mit Klavier und Komplexen
Gedanken, die ich so gut kenne, Fragen, die ich mir auch oft stelle bei meinem Tun. Es sind wohl die Fragen, die viele umtreiben, die Dinge tun, die nicht direkt in Gegenleistungen (vornehmlich in monetärer Form) messbar sind. Dinge, die dem Herz und nicht dem Leistungsdenken entspringen, Dinge, die die Welt nicht braucht, wie man denkt, die jedoch elementar sind für viele Herzen, weil sie Sehnsüchte und tiefe Bedürfnisse stillen. Es ist eben die Resonanz, die sie wecken, die dem anderen das Gefühl vermitteln: "Ich bin nicht allein. Da ist noch einer, der Dinge denkt, wie ich sie denke." Und dann fühlen sie sich verstanden und damit nicht mehr allein in der Welt. Und ja, es sind auch Dinge, die oft einfach nur gut tun. Was wäre wichtiger. Also braucht es diese Dinge eben doch. Vielleicht nicht gefühlt für die grosse Masse, da wäre Tiktok wohl besser, aber für einzelne Menschen, die dann zusammen doch auch viele sind.
Danke für die Morgengedanken!