Früher musste man sehr gebildet sein, um einen Text wie diesen zu schreiben. Man hatte entweder ein Wissenslevel wie Leonardo da Vinci oder einen sehr zerfledderten Bibliotheksausweis. Heute hilft Google. Google lädt die Ahnungsakkus im Kopf mit Kenntnis auf. Ich als Non-Abitur-Gelehrter bilde mich zum Beispiel mit jeder meiner Kolumnen weiter. Heute über Apokalypsomanie. Das Wort gibt es, ich habe es erfunden. Wenn Google funktioniert, führt die Suche nach „Apokalypsomanie“ jetzt zu einem einzigen Eintrag: diesem hier. Viel mehr Ergebnisse ergoogeln „Katastrophengeilheit“, „Bock auf Ärger“ und „Angstlust“.
Orgiastische Orkane
Ich kann mir die massenweise Unterstützung für den triebgesteuerten Trump und andere Finsterlinge nicht anders erklären als mit lustvollem Interesse am Untergang. Genau wie bei mir imMärz 1981: da kracht ein Sturm durch Bremen. Ich bin fast dreizehn Jahre alt und stehe mit meinem Parka am Osterdeich. Der Wind bläst so heftig, dass ich mich im 45-Gradwinkel dagegen lehnen kann. Die sonst gemütliche Weser wird zu einem gewaltigen Strom, der die Ufer mit sich reißt. Parzellenhäuschen treiben im aufgewühlten braunen Fluss, Kühlschränke und Möbel. Mir gefällt das, ich bin sonderbar erregt. Ich behalte das aber für mich, denn ich spüre, dass das nicht gut ankommen würde.
Mir steckt schließlich noch die Katastrophe der Olympischen Spiele 1972 in den Knochen. Nicht die mit den Terroristen, die andere:
„Das hab ich nicht gewollt!”
Ich schaute damals im Fernsehen den Speerwerfern zu, sie faszinierten mich. Wie sie den Speer hinter sich hielten, dann ein paar energische Schritte taten und den Arm mitsamt der Lanze nach vorne warfen, dann folgte die Kamera dem schwebenden Stab – erhebend! Im Garten meiner Großmutter fand ich den Stecken eines alten Spatens und übte damit für meinen großen Wurf. Ich hielt mich aber nicht lange mit unspektakulären Ergebnissen auf, sondern knallte das Objekt gleich mit Anlauf ins große Terrassenfenster hinein. Ich erinnere mich genau an das Gefühl: ich wusste, das gibt Ärger. Und es gefiel mir. Das Glas barst, in mir breitete sich Zufriedenheit aus. Die geschockten Eltern haben mir geglaubt, „dass ich das nicht wollte“, ich war ja gerade mal vier.
Wenn ein hypersensibler Typ Bock auf Ärger hat, erkennt man das nur an einer subtilen Veränderung der Ausstrahlung. Foto: Martin Peterdamm
Die Cocktailbar der Psyche
Warum mich die Erfahrung der Zerstörung so interessierte, weiß ich nicht mehr. Aber es hatte irgendwie etwas sexuelles. Wer in Ernst Jüngers Tagebüchern vom Bericht des Luftangriffs auf Paris 1944 liest, versteht mich:
„Beim zweiten (Luftangriff), bei Sonnenuntergang, hielt ich ein Glas Burgunder, in dem Erdbeeren schwammen, in der Hand. Die Stadt mit ihren roten Türmen und Kuppeln lag in gewaltiger Schönheit, gleich einem Kelche, der zu tödlicher Befruchtung überflogen wird. Alles war Schauspiel, war reine, von Schmerz bejahte und erhöhte Macht.”
Psychologinnen unterstellen der Lust an der Katastrophe eine sinnvolle Funktion: Untergangsfantasien erzeugen Angst. Gleichzeitig wird in der Cocktailbar der Psyche eine Flasche Endorphin entkorkt. Endorphin hemmt den Schmerz und schenkt Selbstvertrauen – ein geniales Programm, um in ausweglosen Situationen nicht zu verzweifeln.
Ich genieße das Privileg, meine Apokalypsomanie schon in der Kindheit ausgelebt zu haben. Ich komme heute hervorragend ohne Armageddon aus. Leonardo da Vinci wusste allerdings schon vor über 500 Jahren, dass meine Privatmeinung für die Weltgeschichte keine Rolle spielt:
„Auf der Erde wird man Geschöpfe sich unaufhörlich bekämpfen sehen, mit sehr schweren Verlusten und zahlreichen Toten auf beiden Seiten. Ihre Arglist kennt keine Grenzen.”
Nachtrag: Heute schreibt Andrian Kreye in der Süddeutschen Zeitung, dass zumindest die Klima-Apokalypse wahrscheinlich ausfällt. Immerhin!
Ich finde, die Staatsmänner mit Apokalysomanie sollten sich alle auf einer Insel treffen und das unter sich ausmachen, anstatt andere in Massen da mit reinzuziehen… 😱
Ansonsten wäre Apokalysomanie auch ein schöner Name für einen Cocktail 🍸😄
Danke an Robert Hannemann, der mich darüber aufklärte, dass der Weserdurchbruch 1981 war. Und nicht 1976, wie in meiner ersten Fassung. Was für ein Glück, aufmerksame Leser zu haben, die wirklich gebildet sind und nicht nur googeln. Danke!