Norddeutsche Stadt mit einer Silbe? Nee, nicht Kiel. Ki-äl hat zwei Silben, eine Silbe hat Brem. Wer es nicht glaubt, ruft bei Radio Bremen an. Mit etwas Glück geht derjenige Herr in der Telephonzentrale an den Apparat, der sich mit „Hier is Rajo Brem“ meldet.
So verknappt wie die Aussprache kommt auch die stadtspezifische Symbolik in der kleinen Hansestadt auf den Punkt. Bremen zeigt auf charmante Weise, was es von seinen erwerbslosen Mitbürgern hält: Die zentrale Anlaufstelle für Bremerinnen und Bremer auf der Suche nach Beschäftigung, die Agentur für Arbeit, hat bezeichnenderweise seit Menschengedenken die Adresse Doventorsteinweg.
Die regionale Ironie hört nicht auf: Wer als Pennäler nicht aufgepasst hat, kuriert seinen Bildungsmangel in der Volkshochschule. Wo war die nochma? Ach ja klar, in der Faulenstraße. Und in der dunklen Gasse, wo früher die Räuber auf Passanten warteten, die sie ausnehmen konnten, die Röver, wie man plattdütsch zu Dieben sacht, steht seit über 100 Jahren das Finanzamt, nämlich am Rövekamp. Wer von den Banditen der Steuerbehörde seiner Reichtümer entledigt per Herzinfarkt ins Jenseits gleitet, empfängt die Grabesblumen von der Friedhofsgärtnerei. Die stammt noch aus der Zeit, als der Beruf den Nachnamen bildete: Hans Tod und Söhne.
Eine Stadt, die den Witz in den Straßen- und Familiennamen trägt, kann nur Biotop sonderbarer charakterlicher Ausformungen sein. Ist es ein Wunder, dass Loriot und Hape Kerkeling ihre großen medialen Kunstwerke bei dem kleinen Sender an der Weser schufen? Dass Rudi Carrell hier seinen anarchistischen Moderationsstil entwickeln konnte? Dass in den legendären Musiksendungen Beat-Club und Musikladen durch experimentierende Freigeister Pioniertaten der Musikvideokunst vollbracht wurden? Woanders hätten schlaue Redakteure womöglich alle unkonventionellen Impulse zerredet – bei Rajo Brem konnten Dinge passieren, die in anderen ARD-Anstalten nicht geduldet worden wären. Ob das heute auch noch so ist, weiß ich nicht, aber ich habe es selbst erlebt: als ich Anfang der 2000er beim Rajo-Brem-Fernsehmagazin „Buten un Binnen“ einmal in der Woche einen Song komponieren und dazu ein Musikvideo produzieren durfte, ereignete sich ein formaljuristischer Supergau des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Der Reihe nach:
Ich konnte mein Glück damals kaum fassen, mit Lust stellte ich jede Woche ein kleines Kunstwerk her, nachdem mir die Redaktion ein Thema vorgegeben hatte. Mal war das so etwas Allgemeines wie der Frühlingsanfang oder die Zeitumstellung, mal das 6-Tage-Rennen oder der Karneval. Nach einem Song, in dem ich die Bremer Überheblichkeit gegenüber Bremerhaven auf die Schippe nahm, tagte der Rundfunkrat und sprach eine Rüge wegen herablassender Äußerungen gegen die Hafenstadt aus. Auch mein Musikfilmchen zum Tag gegen den Lärm wusste die Sittenwächter des Sende-Anstands zu erregen, erwürgte ich nämlich in dem Video eine Taxifahrerin, weil sie ihr verfluchtes Autoradio nicht abdrehen wollte.
Wie es überhaupt so weit kommen konnte, dass meine den moralischen Standard des Vorabendprogramms verletzenden Beiträge in den Äther gingen, hatte mit einer meiner ersten Arbeiten im Sender zu tun, anlässlich des 80. Geburtstag von Loriot. Zu diesem Anlass bat mich die Redaktion um ein unterhaltsames Filmchen. Ich machte das so gut ich konnte, saß nach dem Dreh mit der Cutterin im Schnitt und stellte die Videokassette mit dem fertigen Beitrag ins Regal zur Abnahme, das war damals so üblich. In meiner Abwesenheit befand der zuständige Chef vom Dienst: der Beitrag ist zu lang. Er rief mich nicht etwa an und sagte: „Hör zu, eingebildeter Künstler, dein prätentiöser Schwachsinn ist wie immer zu lang. Sag mir mal, wo ich ein paar Takte einsparen kann“, sondern schnippelte ohne zu fragen in meinem Film rum, vor allem ohne jeden Sachverstand. Ich merkte das erst bei Ausstrahlung und fiel beinah in Ohnmacht vor Schreck und Wut. Anschließend zettelte ich im Sender einen Ein-Mann-Aufstand an und beleidigte den Redakteur als phantasielosen Nachrichtenheini ohne jedes künstlerische Feingefühl.
Das veränderte das Betriebsklima ein wenig. Ich verbat mir für die Zukunft eine Beurteilung und Veränderung meines Werks durch nach dem Rotationsprinzip ausgewählte sogenannte Chefs vom Dienst. Die Redaktion forderte ich auf, eine kompetente Person für die Abnahme meiner Filme bereitzustellen. Jemanden, dessen gestalterischer Horizont über das Schneiden von Beiträgen über Vandalismus an einer Bushaltestelle in Bremen-Mahndorf hinausgeht. Es kann sein, dass das ein kleines bisschen arrogant wirkte. Danach wollte niemand mehr so richtig etwas mit mir zu tun haben, aber die kompetente Person gab es auch nicht. So passierte das Unfassbare: Weil keiner mehr Lust hatte, sich mit mir herumzustreiten, man mich aber auch nicht von jetzt auf gleich loswerden konnte, wurden meine Filme ungeprüft gesendet. Das ging natürlich nur so lange gut, wie mein Vertrag dauerte, nach einem Jahr war ich wieder weg. Ich bilde mir ein, dass so etwas nur in Bremen passieren kann. Eine ARD-Anstalt ist normalerweise ein Tempel der Bürokratie und Rechtschaffenheit, in dem man nicht einfach unter dem Radar der Verordnungen durchschlupfen kann (außer man ist Intendantin in Berlin). In meinem Fall führte das leider nicht zu Jahrhundertereignissen des Fernsehens wie bei den oben Genannten. Hätte ich mal die Profis im Doventorsteinweg nach einem anständigen Beruf gefragt!
Liebe Freundinnen, Freunde, mit diesem 161. Sonntagskind und einer langen Anekdote aus meiner Heimatstadt konnte ich Euch hoffentlich eine Freude machen. Ich begrüße die vielen neudazugekommenen Abonnierenden herzlich! Stöbert gern in den vielen Kolumnen, die ich für Euch am oberen Bildrand in Kategorien zusammengesammelt habe.
Den Bremerinnen und Bremern unter Euch möchte ich ans Herz legen, mit mir eine Party zu feiern. Am 16. Oktober um 19 Uhr spiele ich in der Bremer Neustadt, im Schnürschuh-Theater, ein Geheimkonzert für geladene Gäste, das seid Ihr. Ich würde mich freuen, wenn wir uns dort treffen. Schreibt mir für die Gästeliste eine kleine Mail mit dem Betreff GEHEIMSHOW:
Und noch etwas: der 3. Oktober ist ein paar Tage her. Zum Tag der Deutschen Einheit habe ich mit Bremer Jugendlichen und vielen tollen Musikern, unter ihnen der grandiose Oboist Albrecht Mayer, eine neue Textfassung der deutschen Nationalhymne aufgenommen. Hier ist das Video:
Danke an alle, die meine wöchentliche Frühstücksliteratur unterstützen, sei es durch Empfehlung in eigenen Newslettern, auf Facebook, Linkedin, beim Flirt in der Champagnerbar – oder mit Spenden. Jede Resonanz fühlt sich prächtig an! In den letzten Wochen war ich so sehr mit dem Hymnenprojekt beschäftigt, dass ich noch nicht jede Mail beantwortet und mich noch nicht für die spendable Unterstützung bedankt habe. Das hole ich in Kürze nach und grüße herzlich, je nach Lesezeitpunkt aus einer meiner beiden Zuhauses Berlin oder Bremen.
Euer Mark
Wunderbar mal wieder vom Sonntags Kind zu lesen und zu hören. Die neue Hymne sollte jeden Tag bei Radio Brem ausgestrahlt werden.
Hallo Mark,
bin begeistert von deiner neuen Hymne und habe das Video sofort geteilt mit meinem Musikcafé Bremen. Vielleicht hast du schon von uns gehört. Du findest uns auch auf Instagram. Wenn du Lust hast schau mal rein 👋🏽
Gruß Bärbel