Die Unvernunft ist mein Element! Ratschlägen der Besserwissenden nicht zu folgen, ist für mich Ehrensache. Mit freiem Oberkörper im französischen Alpensommer die Bergsonne anzulächeln, kommt mir nur natürlich vor. Mich vorher mit einem aufdringlich riechenden Industrieprodukt einzureiben, will mir nicht in den Sinn. Am nächsten Tag glühe ich hummerfarben und winsele nach Creme. Jedes Jahr.
Schon als Kind dachte ich, dass Regeln vor allem für die Anderen gemacht sind. Als ich mit 14 nach einem zweiwöchigen Anfängerskikurs vor der Absperrung einer vereisten Höllenpiste stand, kostete es mich nur ein waghalsiges Lächeln – dann jagte ich den Steilhang runter, der von angstgesteuerten Abenteuerfeinden barrikadiert worden war. Triumph der Passion über die Spießergesellschaft!
Die Fanfaren der Hybris wichen vorübergehend dem Schmerzensschrei der Realität, als ich mit blutendem Kopf ganz malerisch im Voralberger Schnee lag. Zwei Herren der Bergwacht fesselten mich auf eine Trage, ab ins Krankenhaus.
Später gab man mir leichtsinnigerweise einen Führerschein. Fest entschlossen, mir von den Spielverderbern der Verkehrsbehörden den ausufernden Lebensstil nicht mindern zu lassen, entwickelte ich als Jungfahrer Selbstbewusstsein. Es erlaubte mir, mit Gin-Tonic betankt von Bar zu Bar durch die Nacht zu schlingern, statt wie sonst nur zu Fuß zu torkeln.
Dass mir kleinkarierte Polizeibeamte während einer solchen Slalomtour das weitere Führen eines Kraftfahrzeugs untersagten, war nur der Zweifelshieb neidischer Staatssklaven auf einen jungen Bonvivant im Strudel des Glücks. Pedantisch wiesen sie mich nach einer erzwungenen Blutprobe auf für ihre Verhältnisse erstaunliche Werte hin.
Meine Werte waren andere! Ganz oben die Königin aller Werte: Leidenschaft. Unten ihre hässliche kleine Schwester: Vernunft. Altersgemäß hat der Leichtsinn in meinem Leben mittlerweile Gesellschaft bekommen: Ich habe heute am Bewahren und Pflegen genausoviel Freude wie am Niederreißen und Neumachen. Trotzdem scheint mir die Vernunft für sich allein ein niedrigrangiges Prinzip zu sein, an das sich unterliebte Vollkaskospießer aus Feiglingshausen halten müssen, weil sie die Wucht des Lebens fürchten, ich hoffe, das wirkt jetzt nicht arrogant.
Aus diesem Grunde möchte ich versöhnliche Gedanken in den wunden Geist unserer Gesellschaft hineintragen. Eine deutliche Minderheit von uns verweigert sich gerade der Vernunft. So wie ich früher will sie sich ungeübt eisige Hänge hinabstürzen. Todesfunkelnd wollen diese traurigen Leute die Kontrolle abgeben, zum Beispiel an halbstarke Angeber, die damit prahlen, sie würden mal richtig aufräumen, wenn man sie nur ließe.
Zwanghaft wie Haus und Hof verjuxende Zocker setzen sie ihre persönliche Freiheit aufs Spiel, um der Regierungselite den Fehdehandschuh vor die Lackschuhe zu knallen. Dabei halten sie den Chip der Demokratie in ihren schwitzigen Händen, während sie im Casino des Lebens aufs Ganze gehen.
Früher nannte man so etwas je nach Frisur und Hygienestatus Punk, Rock’n Roll oder Jazz. Wie unattraktiv klingt „Querdenker“ und „Putinversteher“ dagegen. Niemals war Rebellischsein so wenig sexy wie in diesen Zeiten. Dagegen sein und gleichzeitig uncool, das ist neu.
Begegnen wir denen, die Genugtuung bei großmauligen Scharlatanen suchen, mit Liebe. Vielleicht wollen sie sich nur vergewissern, dass zu unserer Existenz mehr gehört als nicht zu sterben.
Habt Ihr Freundinnen, die nicht leichtsinnig genug sind? Oder zu wenig uncool? Beeindruckt sie mit dieser Sonntagskindkolumne!
Ich kann es nicht lassen: mein Scheitern als Prophet in Hinblick auf die Wahl in den USA war nur ein Flüchtigkeitsfehler. Hier meine neue Prognose: Wenn die AfD verboten wird, zieht Sahra Wagenknecht ins Kanzleramt ein, gewählt aus Trotz! Wer ist anderer Meinung?
Dies ist die 165. Sonntagskindkolumne, geliebte Leserin, geliebter Leser. Jeden Sonntag vor dem Frühstück liefert meine innere Redaktion eine neue Ausgabe, um zwischen Croissants und aufgeschäumten Milchkaffees unter den stuckbedeckten Wänden Eurer Altbausalons für Unterhaltung zu sorgen. Ich widme mich wöchentlich mit meiner ganzen Überheblichkeit den großen Themen unserer Zeit. Dabei greife ich auf meine riesige Phantasiebibliothek aus intuitiv ergoogeltem Halbwissen zu und täusche mit allen Mitteln meiner Kunst Profundidät vor. Bis jetzt ist mir noch niemand auf die Schliche gekommen. Das liegt auch an Euch, die Ihr mir von Zeit zu Zeit in die Sonntagskindkasse spendet. Ich nutze die Zuwendungen, um meinen ausschweifenden Lebensstil zu pflegen. Damit kaufe ich die Teufel des Selbstzweifels frei. Danke, dass Ihr es möglich macht!
Bis nächsten Sonntag,
Euer
PS:
Kein uncooles Dagegensein ohne anständige Feindbilder. Diese Kolumne aus dem Dezember 2023 ist eine prima Ergänzung der heutigen Lektüre. (Mit Aufklebern zum Ausschneiden):
Durch altersbedingte Frühaufsteher Marotten, freut mich so ein Text über die jugendliche Unvernunft, welche auch mich oft in Grenzbereite Breitengefrade brachten und auch heute noch für viel Haferschleim mit Quark und Marmelade sorgen. Danke für die Einstimmung in einen neuen grauen Nichtlicht-Tag! Little Alien Domain wird heute um ein Jahr verlängert und hoffentlich endlich bald Mal von mir hoch zum Überlauf gebracht... (up to date and full on)