In der FAZ lese ich über den Gast eines sogenannten Nobelrestaurants, der jetzt doch die Rechnung für eine Riesenflasche Champagner akzeptieren muss, die er mit seinen Geschäftsfreunden geleert hat. Er hatte sie unnötigerweise mit dem Messer geköpft. Eindrucksvoll, so wie der Schauspieler Otto Sander bei seinem legendären Offizierscasino-Auftritt in „Das Boot“.1 Der bedolchte Mann kniff dann allerdings, als er vom viel gefährlicher bewaffneten Kellner mit der Rechnung über 13.000 Euro angegriffen wurde. Das war der Preis für die 6-Liter-Methusalemflasche Roederer Cristal. Vielleicht hatte er sich verhört und glaubte, mit dreizehnhundert davonzukommen. Möglicherweise rechnete er aus, dass das billiger wäre, als die ganze Bande in den Puff einzuladen.
Seine gerichtliche Klage gegen das Restaurant hatte wohl eher einen unterhaltenden Effekt auf die Juristen – die unvergessliche Geste musste vollständig bezahlt werden. Man kann dem Herrn nur wünschen, dass es von seiner Aktion ein Photo für die Enkel gibt. Bildunterschrift: „Think big!“ oder „Geld ist nur Energie. Energie muss fließen!“. Den Bewirtungsbeleg möchte ich gerne sehen. Unter „Anlass der Bewirtung“ könnte mit nicht mehr ganz souveränem Kugelschreiberstrich stehen: „Vorbesprechung Privatinsolvenz“.
Solche vorausschauenden Gedanken haben meinen Vater nicht gekümmert, als er Mitte der 1980er Jahre entschied, es noch mal so richtig krachen zu lassen, bevor er mit einem Pistolenschuss Schluss machte. Nach seinem Freitod flatterten Rechnungen ins Haus. Einzigartige Dokumente der Maßlosigkeit – American Express-Belege aus der Bar „Jardin du Désire“ über fast 30.000 D-Mark. Um in dieser Zeit an einem Abend auf einen solchen Betrag zu kommen, musste man wahrscheinlich mehrere Orgien buchen und nicht nur eine Badewanne mit Champagner füllen lassen.
Die legendäre Bar „Jardin du Désire” (frz. f. Garten der Lust)
Unter die Trauer und Erschütterung über den plötzlichen Selbstmord mischte sich Bewunderung, ich war ja erst 17. Die Exzessivität meines Vaters hallte in mir nach und schuf einen eigenen Sound der Verhaltensübertreibung, ich eiferte mit meinen bescheidenen Jugendmitteln dem Glamourvorbild nach. Die Selbstwahrnehmung als Künstler half beim experimentellen Balancieren an der Sturzkante zum Abgrund. Heute finde ich endlich, mit über 50 Jahren, einen Weg, in den unendlichen Strudel der rauschhaften Lust zu stürzen, ohne Unheil anzurichten:
Zum ersten Mal in meinem Leben besuche ich eine Gärtnerei, um Gemüse und Früchte zu pflanzen. Ich lade den Einkaufswagen voll mit Setzlingen, die mir im schwülen Gewächshaus lüstern ins Auge glänzen. Zucchiniblätter recken sich mir tropfnass entgegen. Mit pelziger Gänsehaut schmiegen sich keck ins Aufrechte perlende Tomatenstengelchen an meine Finger, als ich diese mit sanftem Druck zu mir neige. Als lechzten sie danach, aus der Enge ihrer Blumentopfschlüpferchen zu entkeimen und ihre fiebrig vibrierenden Wurzeln tief ins Nass der Gartenerde zu bohren. Vorlaut aufspreizende Auberginenblattschenkel drängen sich mir auf. Gierig trachten sie danach, in den moosigen Grund fruchtbarer Erde gestoßen zu werden. Pralle Lavendelstauden, glänzend benetzt, beben fiebrig ihrer Nochprallerwerdung entgegen. Während ich mir vorstelle, wie aus verlangend knospenden Blüten vulvige Himbeeren werden, weiß ich: dieser Garten der Lust hätte meinem Vater auch gefallen.
Im Garten. Anzug: Strellson, 499,-€, Hemd: Herr von Eden, 279,-€, Seideneinstecktuch: Les Belles Vagabondes, 30,-€, Lackschuhe (nicht im Bild): John Lobb, 3.200,-€
Otto Sander als Kapitänleutnant Thomsen beim Köpfen einer Flasche Champagner.
NACHTRAG: Mit diesem Photo hat mich Richard Neff per Mail erfreut:
Jeans 15 Jahre getragen, Hemd 10 Jahre getragen, Schuhe 7 Jahre auf dem Tennisplatz, Gärtner ausgemustert, 87 Jahre.
Dazu schreibt er:
Lieber Mark,
es ist immer eine Freude am Sonntagmorgen das "Sonntagskind" anzuklicken.
Heute wieder eine Überraschung! Ich habe gerade gestern auch Tomaten, Zucchinis und Gurken gepflanzt, aber dabei keine erotischen Gedanken entwickelt. Wahrscheinlich muss ich noch daran arbeiten. Vieleicht stellt sich das noch in der Reifephase ein, wenn die Gurken die richtige Größe und die die Tomaten die entsprechenden Rundungen haben. Bei den den Zucchinis bin ich gespannt, ob das überhaupt etwas wird. Die Verkäuferin in der Gärtnerei hat mir gesagt, ich muss zwei Pflanzen kaufen, sonst findet keine Befruchtung statt? Mal sehen, ob das in der Natur klappt....
Klasse, Mark!
Immer wieder eine Freude.