Ich geh immer erst zum Arzt, wenn es zu spät ist. Ich mach es kurz, es läuft auf Zahnimplantate hinaus. Das wäre bei einem anderen Temperament vermeidbar gewesen, aber mit einem anderen russischen Präsidenten wäre meine Wohnung wärmer, mit höherer Intelligenz hätte ich Physiker werden können, etc.
Der faule Zauber der Hypothese eben. Ich habe einmal den Dichter Michael Augustin bei einer Lesung musikalisch begleitet. Er schenkte mir daraufhin eines seiner Bücher. Darin schrieb er die Widmung: „Könnte ich so Klavier spielen wie du, wär ich Pianist geworden.“
Hätte ich immer schön Zahnseide benutzt, müsste ich mir jetzt keine Zahnimplantate im Wert eines halben Jahrs Wohnen im Waldorf-Astoria in den Kiefer pflanzen lassen.
Sätze zum Tätowieren
In Hamburg probe ich gerade mit einem merkwürdigen Orchester: es sind pensionierte Berufsmusiker des Opernhauses und der Philharmonie. Damen und Herren, die ihr Leben lang Wagner, Brahms und Mahler gespielt haben. Und junge Instrumentalisten, die aus der Ukraine abgehauen sind und hier weiterstudieren. Mit Maxim, dem ukrainischen Trompeter, spreche ich in der Pause einer Probe. Er sagt so etwas wie: „Lass uns schön zusammen mit Freude Musik machen und alles geben, in ein paar Tagen fällt uns vielleicht eine Rakete auf den Kopf und alles ist vorbei. Dann wäre schade, man hat die Musik nicht auf die Spitze getrieben.“ Das erscheint mir sehr wahr. Und es rührt mich, weil Maxim als Kriegsflüchtling nicht im Verdacht steht, pathetische Reden zu schwingen. Er weiß, wovon er spricht. Wäre „Lebe deinen Tag als wäre er dein letzter“ nicht so ein überbenutzter Spruch, er wäre eine Tätowierung wert.
Die seelenlose Tante
Wär ich doch nur vernünftig! Ist die Vernunft aber nicht die unbegabte Schwester der Intuition? Die kleine Meckerziege, die sich mit ihren Bedenken rühmt und allerorten um Vorsicht buhlt? Die anstatt zu motivieren, Zweifel schürt und dir deine genialen Ideen auszureden versucht? Ja. Ist sie. Ich geh zum Arzt, wenn es juckt, brennt und pochert. Nicht, weil Fräulein Vernunft mal wieder herumschlaumeiert. Vernunft ist die seelenlose Tante der Leidenschaft. Spontanität ist ihr fremd, Impulsivität auch. Niemand verliebt sich aus Vernunft. Aus Vernunft komponiert man keine Melodie. Es sei denn, man ist musikalischer Produktdesigner und hat zuvor den Markt analysiert, um ihm genau die Töne unterzujubeln, die sich am besten verkaufen lassen. Vernunft begeistert nicht. Vernunft kommt ohne Charisma aus, sie ist die demente Stiefschwester der Lust.
Den Schmerz in Kunst verwandeln: ein vernichtender Schlag gegen die Vernunft
Foto: Viktor Schanz
Grauen und Glück
Es ist Freitag Nachmittag, ich habe schon eine halbe Schachtel Ibuprofen intus. Fräulein Vernunft steht da mit verschränkten Armen und einem Gesichtsausdruck, zu dem die Sprechblase „Na? Was hab ich gesagt?” passt. In meiner Not frage ich die Projektleiterin meiner Hamburger Produktion um Rat. Sie ist Iranerin und kümmert sich sofort um mich. Sie ruft ihre Zahnärztin an, die hat ihre Praxis schon geschlossen, macht sie aber für mich wieder auf. Sie ist auch Iranerin. Sie begrüßt mich mit einer Umarmung, als kennten wir uns schon ein halbes Leben. Während ich liege und sie das Grauen in meinem Mund inspiziert, denke ich mir: „Wär ich jedes Jahr dreimal in irgendeiner Zahnarztpraxis gewesen, lernte ich diese wundervolle Medizinerin nicht kennen, die nur für mich später in ihr Wochenende geht.”
Sie erzählt sie mir von einem persischen Brauch: wenn der Name des Großvaters auf einen neugeborenen Sohn übergeht, wird das Baby gefeiert wie ein Wiedergeborener. Das Grab des Verstorbenen wird nicht mehr besucht, die Mutter wird mit Blumen und Geld überhäuft, die Freude über die Geburt beendet die Trauer über den Abschied. Das erscheint mir ausgesprochenen vernünftig.
Liebe Leserin, lieber Leser. Als Bühnenkünstler bin ich Applaus gewohnt. Auch, wenn es dir profan vorkommt: ein “Like” fühlt sich gut an. Auch freue ich mich über einen Kommentar. Das Abo bringt dir Sonntagskind jede Woche per Mail. (Es kostet nichts). Einen schönen Sonntag und danke fürs Lesen!
Wer mehr über mein Projekt in Hamburg wissen will: hier ist ein Zeitungsartikel: Meine Symphonie