Verehrte liebe Lesende,
in der 213. Sonntagskindausgabe nehme ich Euch mit auf die Bühne. Viel Spaß mit diesem Salonkrimi aus der Unterwelt der Organisierten Musikalität.
There’s no Bizness like Showbizness! Ich sehe den Vorhang von hinten. In der Hand liegt das kühle Silber der Basstrompete wie der Lauf einer geladenen Chicago-Klarinette. (Mafiaspitzname für eine patronengeladene Argumentationshilfe, Anmerkung d. Red.) – Draußen, auf der Bühne, sitzt Arno Zillmer am Flügel und singt mit gefährlichem Timbre den Titelsong seiner Open-Mic-Show in der Berliner Wabe. Fünf Melodien-Mafiosi performen heute um die Zuwendung des Publikums, das am Ende über einen Gewinner abstimmt.
Ein Pate in den besten Jahren
Ich bin in einer meinem Alter angemessenen Rolle hier: Pate. Zwar werde ich am Ende der Show keine Betonschuhe in Auftrag gegeben haben, auch wird mir niemand den Siegelring küssen. Dass man mein Angebot nicht ablehnen kann, hoffe ich trotzdem: Ich soll die Newcomer vorbildlich inspirieren. Allerdings sind die Kollegen alle etwa in meinem Alter, zum Teil sogar noch weiter der Lebensphase jugendlichen Sturmdrangs entwachsen als ich. Was soll ich ihnen also nahebringen? Das Tragen von Nadelstreifenanzügen?
Mordspanik vorm Mikrophon
Ich warte noch immer hinter dem staubigen Samt. In meinem Rücken das ermattete Garderobenlicht aus Leuchtstoffröhren vergangener Jahrzehnte. Allmählich steigt der Bühnenblutpegel in den Adern. Als ich sehr jung das erste Mal mit einem Mikrophon auf der Bühne stand, verschlug es mir die Sprache – meine Lippen öffneten sich zwar, aber nichts kam raus – als hätten mir ein paar Herren mit Sonnenbrillen eingebläut: „Wehe, du singst!”
Aus Angst zu Eis erstarrt. Irgendwann merkte ich: Lampenfieber ist wie Verliebtsein – und Verliebtsein ist toll. Das könnte ich Bühnenneulingen empfehlen, die vor ihrem Auftritt Zähneschlottern und Schüttelknie kriegen: Du willst auf die Bühne? Sei verliebt! Schließlich soll selbst Al Capone ein freundlicher Mann gewesen sein.
Fake it like a Godfather
Mit dem Glamour des Verliebten stehe ich jetzt im Lichtkegel und tue so, als könnte ich Trompete spielen. „Fake it till you make it“ wird Sabine Erikson später singen, eine der Songwriterinnen des Abends. Recht hat sie. Ich stelle mir einfach vor, ich wäre Louis Armstrong, dann läuft das. Armstrong, der Botschafter der Liebe, nicht Miles Davis, der zeitweise auch ein krimineller Geschäftsmann war. Für Miles bin ich nicht cool genug.
Hippie-Vibes mit Haltung
Hieke Hoffmann scheint es egal zu sein, ob sie der Coolnessfraktion gefällt: Sie ist 1973 nach Berlin gekommen, hing in Schöneberg mit Bowie und Iggy Pop rum und ignoriert gut gelaunt, dass die Siebziger vorbei sind. Schrubbt auf der Klampfe Studentinnenakkorde und ruft, wir alle wären verrückt – sie inklusive. Ich glaube ihr jedes Wort und freue mich über das erfrischende „Trotzdem“, mit dem sie die Bühne zu ihrem Audimax und uns zu Mitgliedern ihrer Kommune macht. Ich glaube, sie braucht keinen Paten.
Projektgeprotze statt Palermo-Pose
Im Nachhall der Hoffmann’schen Barrikadenballaden fragt mich Arno nach der Melodie des Lebens, meiner Kooperation mit der Deutschen Kammerphilharmonie und den ECHO-Klassik. Wir sprechen übers Musikmachen mit Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen, über das Komponieren fürs Orchester, über Jazz-Chansons, Stummfilmmusik, die Deutschland-Symphonie, Schlagertexte fürs Après-Ski-Milieu und die beiden Opern, die ich geschrieben habe – bis mir schwindelig wird. Das ist doch alles viel zu viel, denke ich – dann soll ich auch noch eine Sonntagskindkolumne lesen. Dabei habe ich doch schon am Flügel gesungen, Basstrompete gespielt und zwei Ausschnitte aus meinen Dokumentarfilmen gezeigt. Soll ich vielleicht noch Spielautomaten aufstellen, im Drogenhandel einsteigen und Investment-Tipps geben?
Die Ehrenwerte Sensibilitätsgesellschaft
Ich bin wie der Weber im Sommernachtstraum – die Rollen sind verteilt, er aber ruft: „Lasst mich den Löwen auch noch spielen!“ Für einen Paten bin ich viel zu emotional. Don Corleone hatte immer ein Pokerface – ich heul doch schon aus Rührung, wenn ich beim Mau-Mau kurz vorm Gewinnen bin. Ich würde jedem sofort Geld leihen, der mein Schutzgeld nicht bezahlen kann.
Der zögernde Zampano
Außerdem geht es doch hier nicht um mich, sondern um Hieke, Sabine, Michael, die Ricochets und Lili Moondog – schließlich ist es ihre Show – ein Pate sollte stilvoll im Hintergrund agieren, nicht so viel Raum einnehmen. Also schlage ich vor, die Lesung zu streichen. Im selben Augenblick zuckt meinem inneren Consigliere schon der Finger am Abzug: „Bist du bescheuert? Du willst auf die Bühne, jetzt kneifst du? Kein Wunder, dass dich keiner kennt!“
Aber er berät zu spät, das Podium gehört schon den Ricochets, einem sympathischen Herrentrio, das auf Französisch Dolce-Vita-Feeling verbreitet. Monsier Sukram, der Sänger, sieht ein bisschen so aus, als könnte er im New York der Prohibition auch Schnapshändler um Abgaben erleichtern. Nach wenigen Minuten der Songperformer mit dem Mon-Chéri-Lächeln tanzt der Saal als wäre die Cosa Nostra ein Kulturförderprogramm.
Ballade mit Beute
Am Ende weiß das Publikum: Michael Mü Günther, der Mann mit dem Hut und dem Ringelshirt, ist der Gewinner des Abends. Wie ein freundlicher Wolf Biermann sitzt er singend mit seiner Gitarre auf einem Hocker – und schmuggelt mit kriminellem Texthandwerk Berührung unter die Haut.
Omertà des guten Tons
„Das war eine tolle Nummer“, strahlt mich Mü an, nachdem ich ihm die Trophäe überreiche. Was, der Song, den ich gesungen habe, frage ich? Nee, der war ganz okay, meint Mü. Aber dass du die Bühne freigemacht hast! – Ich bin offenbar ein Pate, dessen Vendetta niemand fürchtet. Und in Sachen Rampensau braucht hier schon gar keiner meine Nachhilfe.
Das war ein Riesenabend – aber ich habe ein Alibi. Auf dem Weg ins Zeugenschutzprogramm:
Euer
Kommentare sind die Aftershowparty der Kolumne. Du bist eingeladen!
Neu erfundene Wörter in der 213. Sonntagskind-Kolumne: Chicago-Klarinette, Melodien-Mafiosi, Bühnenblutpegel, Zähneschlottern, Schüttelknie, Studentinnenakkorde, Barrikadenballaden, Sensibilitätsgesellschaft, Mon-Chéri-Lächeln.
AUS DER KAJÜTE DER ERKENNTNIS
I. Coolness ist eine Verkleidung; Glamour eine Entscheidung.
II. Respekt kann man nicht erpressen
III. Lampenfieber ist das Schutzgeld für den Glücksrausch

Wer hier zum ersten Mal vorbeischaut: Ich bin Mark Scheibe, ein freundlicher Snob, der mit seinem Steinway-Flügel auf einem Hausboot lebt. Ich gelte als weltweit ignorierter Künstler. Ein Geheimtipp bin ich als Opernkomponist und Jazzsänger. Auch als Schlagertexter, Astrologe und Marathonläufer halte ich mich aus Anstandsgründen dem Glitzerlicht der öffentlichen Bewunderung fern. Mit meiner wöchentlichen Kolumne „Sonntagskind” versuche ich mich vor dem natürlichen Andrang auf mein stetig wachsendes literarisches Oeuvre zu verstecken.






KrasserfieberAlbtraum. So war meine letzte Nacht ungefähr über mit weniger Musik und weniger Kontakt zu Menschen. Danke für deine Kolumne!