Als die 2. Halbzeit im EM-Finalspiel der englischen gegen die spanische Nationalmannschaft begann, begrölten 70.000 Fans die titelentscheidende Partie. Die eine Hälfte jubelte, wenn die eigene Mannschaft den Ball hatte, während die andere genau diesen Zustand ausbuhte und mit hässlichen Pfiffen begleitete. Wechselte der Ball in den Besitz der anderen Elf, wechselten auch die Schmähstimmen das Lager, in dem man nun versuchte, das triumphierende Geschrei der Gegenseite niederzutoben. Zusätzlich pöbelten die deutschen Fans, wenn ein bestimmter spanischer Spieler den Fuß am Ball hatte, weil sie den für das Ausscheiden der eigenen Truppe ein paar Tage vorher verantwortlich machten. Beim Fußball darf man böse sein.
„Wir hätten sie früher töten sollen“ fasste Antonio Rüdiger nach dem 2:0 gegen Dänemark das Spiel seiner deutschen Nationalmannschaft zusammen, und einige türkische Nationalspieler verglichen ihren Fußballsieg gegen Österreich ganz ironiefrei und stolzgetränkt mit der brutalen Niedermetzelung Wiens im 16. Jahrhundert. Im sportlichen Kontext ist kriegerisches Vokabular ganz normal: beim Fußball wird vor allem das Gegeneinander zelebriert.
Köpfe im Clinch
Ich bewundere die Kunst auf dem Rasen, den für mich unfassbaren körperlichen Einsatz, mit dem ein Torwart nach einem Ball springt, wissend, dass er danach schmerzhaft stürzt. Die angstfreien Zusammenstöße zweier rivalisierender Kopfballschützen. Die enorme Geschwindigkeit, die Teamkunst, der kollektive Flow auf 100 mal 60 Metern.
Bratschen statt Bengalos
Zuhause fühlte ich mich am 13. Juli aber erst in der dritten Halbzeit:
12 Kilometer östlich vom Stadion erklangen zur 55. Spielminute die ersten Takte der Alpensinfonie mit der Staatskapelle Berlin. Draußen auf dem Bebelplatz dirigierte Christian Thielemann eine Hundertschaft meisterhafter Weltklassespieler, die nur einen Bruchteil des Gehalts der Fußballmillionäre im Olympiastadion verdienen. Immerhin 30.000 Menschen ließen sich von Richard Strauss’ Musik auf die Reise nehmen – die dritte Halbzeit, ein Fest des Miteinander. Im Fußball geht es um Emotionen, das spürt jedes Kind. Hier, beim Konzert, geht es auch um Emotionen. Warum brüllt hier niemand? Keiner buht die zweite Fagottistin aus, selbst die Bratschen werden nicht im Chor gedemütigt. Noch nicht einmal Feuerwerkskörper werden gezündet – was ist hier los?
Der symphonische Strafraum
Kein Posaunist zeigt nach erfolgreicher Artikulation des Grundtons den Wolfsgruß. Die 1. Cellistin rutscht nicht auf Knien übers Parkett, nachdem sie die schwierige Stelle in Daumenlage gemeistert hat – und die Kollegen bilden keinen Haufen mit ihr. Nach dem finalen Akkord des zweiten Stücks, Wagners Tannhäuser-Ouvertüre, spricht keine Flötistin ein verschwitztes Statement in ein Reportermikrophon: „Ja gut, man darf jetzt nicht alles so schlecht reden wie es war. Da müssen wir uns gegenüber selbstkritisch sein, um das mal verbal zu sagen.“ Am Bebelplatz, nicht im Stadion löste sich der UEFA-Slogan ein: „Vereint im Herzen Europas“.
Abgrenzung im kulturellen Abseits
Manche Leute im Publikum mögen einen Abgrenzungswunsch hegen. Sie nutzen die erhebenden Melodien und Klänge, um sich vom Pöbel zu distanzieren, der für die hohe Kunst zu blöde ist. Während man sich selbst ins polyphone Geflecht eines Jahrtausendkomponisten einwebt, erhöht man sich über den Idioten, der auf dem Ballermann Kindermelodien krakeelt. Man selbst würde noch nicht mal „Geiger, wir wissen wo dein Auto steht“ johlen. Andere halten sich an die herrische Gesinnung der beiden großen Richards und finden im Klang des überwältigenden Orchesters die Bestätigung ihrer eigenen perversen Blut-und-Boden-Gedanken. Dafür kann die Musik aber nichts. 1:0 für die Poesie. Hier gibt es keinen Gegner. Die Staatskapelle Berlin spielt ohne Vernichtungsabsicht.
Wer vom Fußball-Thema immer noch nicht genug hat, liest auch dieses Sonntagskind:
Wer sich im Theater wohler fühlt als im Stadion, kommt mit in die Oper:
In der letzten Kolumne deutete ich an, mit einem Montblanc-Füller zu liebäugeln. Sonntagskindleserin Ilse Weber aus Graz ist nicht einverstanden. Sie schreibt auf meine Kolumne „Pianist in der Hotelbar”:
„Wertes Sonntagskind,
d'accord - frau und man müssen nicht reich sein, um Stil zu haben!
Diese Kombination kommt ja ohnehin selten vor, was wir armen Champagnerschlucker nicht ohne Schadenfreude goutieren.
Deine fürwahr unerschütterliche Stilsicherheit erscheint mir jedoch ein wenig ins Wanken geraten (ob der Hitze?) – bei der Wahl eines der Eleganz deiner Hände adäquaten Schreibgerätes. Eine mittlerweile zur Allerweltsmarke der neureichen Möchtegerne-Stilikonen gewordene Feder?
Dem Sonntagskind würde ich den Urahn des edlen Schreibgerätes, einen Waterman-Füllfederhalter aus den Zwanziger Jahren oder einen Pelikan aus den Dreissigern oder (wenigstens) einen Faber-Castell in die begnadeten Hände legen!
Meine kleine Anregung erzeugt hoffentlich keinen Unmut und das Sonntagskind bleibt mir gewogen, hofft seine Stilkomplizin!”
Ich danke für die Anregung. Und für die Entlarvung des Montblanc-Füllers als Statussymbol neureicher Schnösel. Wie stünde ich denn da mit so einer prolligen Feder? Dank Ilse habe ich neue Ziele. So einen vergoldeten Waterman aus den 20ern bekommt man schon für 6.500 €. Bewahrt mich davor, mit einem Schnösel-Montblanc zum Gespött der Gesellschaft zu werden – die Sonntagskind-Spendenaktion für elegantes Schreibgerät ist eröffnet:
Mein bescheidener Ruhm als Schreibender lebt vom Weitersagen. Ich freue mich über jede Empfehlung per Mail, auf Facebook, X, LinkedIn. Danke!
Mal wieder genial und auf den Punkt gebracht. Ich schließe mich Ilse an, nur waterman ist ein wahrer und stilvoller Füller.
https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Video/2022/2022-06-03-lindner-sondervermoegen-bundeswehr/2022-06-03-lindner-sondervermoegen-bundeswehr.html Da muss jawoll auch ein Füllhorn mit dabei sein. Und bei diesen brutalen Kopfbällen, die dort auf die Stirnlappen prasseln, hat das doch Jeder nächsten Katersonntag eh vergessen... Fußball ist Krieg. Wie Autobahn fahren und Schwanvergleich mit <zett