Die generische Handtasche
Ich war früher mal Ballettrepititor im Theater. Da habe ich jeden Morgen 90 Minuten die Tänzerinnen und Tänzer am Klavier begleitet. Die Balletmeisterin kam aus London, vom Royal Ballet, sie war sehr streng. Nach meinem ersten Arbeitstag knallte sie mir einen Stapel Noten auf den Flügel und sagte: „Übe dies!“. Ihr missfiel, dass ich die ganze Musik improvisiert hatte, sie wollte ihr vertrautes Repertoire hören: Tschaikowsky, etc. Den Tänzern gefiel zum Glück, wie ich spielte. Ich habe das auch geliebt: den hochkonzentrierten Körpern durch Musik bei ihrer komplexen Routine ein Begleiter sein, das war wie ein Traum. Sie sagten, ich würde irgendwie Kontakt zu ihnen aufnehmen und sie freuten sich, nicht immer dieselben Melodien zu hören. Die Meisterin aber blieb streng. Manchmal schlug sie während des Trainings auf den Flügeldeckel und herrschte mich an: „Weniger Moll!“
Handtaschenbrandzeichen
Das schlimmste aber waren die Handtaschen. Manche Damen der Compagnie parkten ihre Handtaschen einfach auf dem Flügeldeckel. Sie wollten ihre portablen Schatzkammern wohl nicht in der Garderobe lassen, und sonst gab es keinen Platz für ihre Birkinbags und Pradatäschchen. Ich fand das sehr demütigend. Frauen markieren mit einer Handtasche ihr Revier. Ich ging mal mit einer Dame aus, die von mir verlangte, dass ich auf ihre Handtasche aufpasse, wenn sie auf die Toilette ging. Dann stand ich im Foyer des Berliner Ensembles oder des Wintergarten Varieté, in meinem schönen Smoking, das Haar schmuck frisiert und mit romantischem Blick. Ob die lasziven Ladies mit Abenteuer-Aura mich nur deswegen nicht angesprochen haben, weil ich bereits mit dem internationalen Handtaschenbrandzeichen als Fremdbesitz gekennzeichnet war?
Textile Eiterbeulen
Heute, ein Jahrzehnt später, beneide ich Frauen um ihre Handtaschen. Eine Handtasche, Purse oder Clutch ist ein geniales Tool! Es nimmt alles auf, was ansonsten die Hosentaschen ausbeult und jeden eigentlich gut angezogenen Mann in einen stillosen Kretin verwandelt. Wer will schon den profanen Abdruck eines taschenrechnergroßen Telephons neben seinem Körperzentrum? Während auf der anderen Seite eine textile Eiterbeule in Form eines faustgroßen Schlüsselbund prangt. Wohin mit dem Füllfederhalter, dem Notizbuch und der Notzahnbürste?
Männern bietet der freie Markt Rucksäcke, Aktenkoffer, Cargohosen oder Drogenhändlerbauchtäschchen an. Ich habe genug von dieser generischen Engstirnigkeit. Von Annabella (Name v. d Red. geändert) schnappe ich mir eine sehr fancy Handbagtasche. Den Riemen nehme ich ab und trage das Objekt mit einem gewissen modernen Stolz. Ich nenne das Ding „Herrenclutch“ und stelle mir schon einen Werbeclip dafür vor: Eine Stimme, die nach unbestechlicher Rohheit klingt, raunt: „Herrenclutch. Männlich. Urban. Geil. Für die große Hand.“ Dazu Zeitlupenbilder, wie das schwarze Objekt aus veganem Leder in der sanft knetenden Hand bebt, während auf dem Handrücken unnachgiebige Männervenen Lebenskraft und Aufgeschlossenheit symbolisieren. Sollte ich mit dieser genialen Geschäftsidee reich werden, kaufe ich mir ein Ballettstudio. Dort spiele ich gelegentlich am Konzertflügel und stelle einen Concierge an, dessen einzige Aufgabe es ist, Handtaschen zu bewachen.
Ich wünsche einen herrlichen Sonntag! Herzlich,
Ihr