Ich treffe die 13-jährige Maja im Musikraum ihrer Schule. Wir kommen ins Gespräch, sie erzählt, dass sie seit ein paar Tagen ein Geschwisterchen hat. Ich begleite ihre Erzählung mit ein paar hoffnungsvollen Akkorden am Klavier. Zwischen den Zeilen höre ich aber auch gemischte Gefühle und reagiere entsprechend, indem ich der Musik eine gewisse Düsternis spendiere. Maja und ich funken jetzt auf derselben Frequenz, sie packt aus. Wir sind in Kreativität verbunden. Ich entlocke Maja, dass es auch manchmal nervt mit dem kleinen Bruder und dass sie sich, wenn sie ehrlich ist, von ihm bedroht fühlt, denn Mama und Papa haben jetzt einen neuen Liebling. Wir tauschen Zeilen, Melodiefetzen, Sprachbilder. Es dauert nicht lang, bis Maja diese Worte singt:
„Alles läuft aus dem Ruder, mein Status ist in Gefahr.
Ich hab jetzt einen kleinen Bruder,
der da sitzt, wo ich sonst saß,
der das isst, was ich sonst aß,
mein Status ist in Gefahr!”
Das ruft sie mehr als dass sie es singt – so entspricht es ihrer Emotion. Am Abend des Konzerts ein paar Wochen später steht Maja an der Bühnenkante und faucht ihr inszeniertes Unbehagen ins Mikrophon. Weil sie das mit hoher Energie und einer diebischen Freude tut, wird sie vom Publikum verstanden und gewinnt die 500 Gäste als Gefährten für ihren Seelentrip. Dazu spielt eines der besten Orchester der Welt eine aufwühlende Musik, die dem schwindenden Boden unter den Füßen Gestalt gibt und den Soundtrack einer verunsicherten Seele zum Klingen bringt. Maja ist hochkonzentriert, das Publikum flippt aus.
Mit dieser Erinnerung an das letzte Melodie des Lebens-Konzert vor einem Jahr steige ich ein, um meinen verehrten Sonntagskindlesern einen Einblick in die Vorbereitungen der laufenden Melodie des Lebens zu geben: Die 27. Melodie des Lebens kommt am 21. und 22. November zur Aufführung.
Die Begegnung
2007 habe ich angefangen, in einer Schule Musik zu machen. Das habe ich meiner Freundin Friederike Latzko, Solobratscherin der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, zu verdanken. Sie ist überzeugte Gesellschafterin ihres eigenen Orchesters, das in der ganzen Welt die Menschen mit Musik von vor über 200 Jahren von den Stühlen reißt. In der Elbphilharmonie genauso wie in der New Yorker Carnegie Hall oder im Wiener Konzerthaus. Friederike fragte mich damals, ob ich mir ein dauerhaftes Projekt mit Jugendlichen ausdenken kann – mit ihrem Orchester. Das Ganze an einer Schule in einem eigens für die Kammerphilharmonie gebauten Konzertsaal.
Friederike hat mich mit dieser Idee begeistert, denn ich bin wie sie besessen von der Musik. Zwar nicht so, dass ich irgendein Instrument nur annähernd so gut spielen könnte wie sie oder sonst wer aus ihrem Orchester, aber das muss ich auch nicht: die Musik, die in mir wohnt, können andere besser spielen, ich bin Komponist. Meine Aufgabe ist, genau hinzuhören, was sich zwischen meinen Ohren ereignet und das mit meinem Handwerk in eine Schriftsprache übersetzen, die das Orchester lesen kann.
Aus Seele wird Sound
In diesem besonderen Projekt habe ich gelernt, nicht nur meiner eigenen inneren Stimme zuzuhören, sondern die Musik zu erspüren, die in den den vielen Hundert Jugendlichen steckt, die sich mir seit 2007 anvertrauen. Die mich in ihre Leben blicken lassen, mir eine Idee von den Dingen geben, auf die sie neugierig sind. Die mir zeigen, worunter sie leiden und was sie glücklich macht. Was sie berauscht und was sie nervt. Ich habe gelernt, mit ihnen ihre Worte in eine Form zu bringen und die Widersprüche und Besonderheiten ihrer Wesen in Musik zu übersetzen. Auf diese Weise sind schon fast 500 Songs, Melodramen, Chansons, Grotesken, Balladen und andere sonderbare Lieder entstanden, denen eines gemein ist: sie kommen direkt aus der Lebenswirklichkeit der Teenager eines benachteiligten Stadtteils und verbinden sich mit dem symphonischen Klangvokabular eines klassischen Orchesters von Weltrang.
Stumpf ist nicht Trumpf
Dabei könnten wir es uns leicht machen: einfacher Radiopop mit vier Akkorden und dazu Streicher, die lange Noten spielen, das würde reichen, wahrscheinlich würde sich niemand beschweren. Ich will den manchmal reduzierten Wortschatz aktueller Radiomusik nicht schlechtreden – er hat genauso seine Berechtigung wie die Bildzeitung oder andere Blätter, die mit einfachen Worten komplexe Dinge zu fassen versuchen.
Symphonische Gefühle
Wenn ich den Jugendlichen zuhöre, entdecke ich allerdings einen Gefühlsreichtum und eine komplexe Empfindungswelt, die ich nur symphonisch nennen kann.
Deswegen hat das Orchester in der Melodie des Lebens richtig viel zu tun. Wenn es um die Wut der Verlassenen geht, erklingt Musik, die dieses Gefühl in eine Erfahrung verwandelt: finstere Horn-Akkorde fluten schluchzende Oboen und ein Wasserfall aus Geigen stürzt sich über die Bratschen und Celli in die Tiefe. Singt ein Schüler über das Glück des Verliebtseins, rauscht die Flöte wie irr durch die Register und die Violinen vibrieren, das Fagott springt von Herzschlag zu Herzschlag und überschlägt sich mit dem Horn in prasselnden Melodiekaskaden. Soetwas gibt es meist nicht im Radio.
Ab jetzt bis zum Konzert Ende November schreibe ich hier über die Arbeit an der Show, die Begegnungen mit den Jugendlichen, und was auf dem Weg zur Bühne alles passiert – die Zusammenarbeit mit dem Zukunftslabor, dem Educationteam des Orchesters, und den vielen Menschen, die dazu beitragen, dass am Ende ein Konzertabend entsteht, der die Welt da draußen für ein paar Stunden vergessen lässt. Der Melodie des Lebens-Bericht kommt als „Bonustrack” meiner wöchentlichen Sonntagskindkolumne.
Mit einem Abo kommt die Kolumne plus Melodie des Lebens-Bericht per Mail:
Die Melodie des Lebens ist ein Showformat der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen und Mark Scheibe. Sie entsteht in Zusammenarbeit mit der Gesamtschule Bremen-Ost.
Im Laufe der nächsten Wochen veröffentlichen wir einen Kurzfilm aus der 25. Melodie des Lebens, Sonntagskindabonnierende erfahren das als erste. Solange empfehle ich einen Blick in die 19. Melodie des Lebens:
Wundervoll 😍