Liebe Leserinnen, Zuschauer, Gefährtinnen, Freunde,
der berühmte Rapper Macklemore wollte nach seinem Auftritt in Berlin vor 50.000 Leuten noch im Berghain ein bisschen feiern. Er kam nicht rein. Ich schätze, er konnte es mit Fassung nehmen. Was Menschen dazu bringt, sich stundenlang anzustellen, um schließlich der Willkür eines Türstehers zum Opfer zu fallen, verstehe ich nicht. Ich finde die Vorstellung demütigend. Ich brauche keine zusätzlichen Schwellenhüter im Leben, ich steh mir selbst oft genug vor der Tür im Weg rum.
Als ich angefangen habe, Musik zu machen, an der Schwelle meiner Karriere, war schnell die Rede von denen, die Musik nur des Geldes wegen machen und Geringschätzung verdienen. Sie seien eben keine richtigen Künstler. Heute frage ich mich: wer kommt auf die idiotische Idee, zu glauben, mit Musik könne man leicht Geld verdienen? Ich weiß, es soll osteuropäische Bösewichte geben, die den Ärmsten der Armen ausgemusterte Akkordeons und geklaute Trompeten in die Hand drücken und ihnen „Besame Mucho“ und „Marina, Marina“ solange einprügeln, bis ihr Gegniedel so ähnlich klingt wie Musik.
Dann werden sie auf Berlins Straßen losgelassen, um für ihre jämmerlichen Darbietungen Erbarmensgroschen einzusammeln. Die Zwangsmusiker lösen Mitleid in mir aus. Und Ärger. Der barmherzige Bonvivant in mir will die armen Leute an seinem Wohlstand teilhaben lassen. Der innere Berufsmusiker mit Ehrgefühl haut dem großzügigen Gentleman aber in dem Moment auf die Finger, als er die Geldspange öffnen will: „Diese kunstlosen Kretins kriegen keinen Cent!“ „In München würde man Euch zum Teufel jagen!“ möchte er den schaurigen Musikvertretern mit dem antrainierten Heiratsschwindlergrinsen zurufen. In München müssen Straßenmusiker nämlich einer Bezirksvorsteherin vorspielen, um eine Erlaubnis zu bekommen. Die Bezirksvorsteherin ist streng, aber gerecht. Sie sorgt für auditive Qualität auf Münchens Straßen. Als Gesellschaft brauchen wir solche Schwellenhüter.
Auf der anderen Seite der Schwelle denkt man natürlich anders über deren Hüter: Mit Anfang 20 freute ich mich eine Weile lang über eine Festanstellung als Ballettrepetitor am Theater, bei der berühmten Tanzcompagnie um Hans Kresnik. Endlich gab es Geld! Ich merkte allerdings schnell, dass ich dort nicht gut aufgehoben war und kündigte – schon war ich wieder pleite. Vom Arbeitsamt wurde ich dann zur ZAV in Hamburg geschickt, so einer Art Agentur für künstlerische Fachkräfte, die sollte meine Kompetenz prüfen, da über meine Ausbildung nichts bekannt war.
In einem riesigen Saal musste ich an einem Flügel Platz nehmen. Am anderen Ende der Halle saßen drei Herren hinter einem schmucklosen Tisch. Einer rief: „Nun, Herr Scheibe, Sie sind ja Ballettrepetitor. Dann können Sie ja sicherlich den Kaiserwalzer spielen!“ Ich rief zurück, dass ich den Kaiserwalzer nicht kenne, aber etwas in der Art bestimmt spielen kann, wenn mir jemand vorsingt, wie die Melodie ungefähr geht. Von den Herren sang keiner, ich improvisierte dann irgendetwas im 3/4-Takt. Es dauerte nicht lang, dann drang ein „Danke!“ an mein Ohr. Man bat mich hinaus.
Zum Abschied bekam ich noch ein Dokument mit der Beurteilung durch die Experten: „Nicht vermittelbar“. Auf diese Schwellenhüter hätte ich gerne verzichtet. Vielleicht haben sie mich aber auch vor dem künstlerischen Tod als festangestellter Klavierheini in einer Ballettschule in Bitterfeld bewahrt. Diese Arbeit hätte ich wahrscheinlich nur in größter Not und des Geldes wegen gemacht.
„Geld ist die Projektionsfläche für meine Wünsche und Ideen“ lässt sich Finanzpsychologin Monika Müller im Tagesspiegel zitieren. Ich habe viele Wünsche und Ideen! Also brauche ich viel Projektionsfläche. So ein 500 Euro-Schein hat gerade mal 131 Quadratzentimeter. 76 lila Scheine sind immerhin schon ein Quadratmeter. Eine Kinoleinwand hat aber 103 qm. Das entspricht einer Tapezierung mit knapp 4 Millionen Euro – Raum für meine Wünsche und Ideen, man darf als Künstler nicht zu klein denken.
Über solche Glaubenssätze lacht mein Steuerberater: Er wünscht mir viel Spaß, wenn ich im Falle einer Steuerprüfung die berufliche Notwendigkeit der Romantik-Suite in einem Fünf Sterne-Hotel am Genfer See erklären muss. Ich finde, das ist ganz einfach: Eine verschwenderisch ausgestattete Liebesnacht bringt mich an den Kern meines Selbst, lässt mich meine Kreativität spüren. Und im champagnerbegünstigten Lustrausch der Vereinigung erlebe ich den für jede künstlerische Offenbarung notwendigen Kick maßloser Selbstüberschätzung, die mich glauben lässt, meine Vorhaben auch tatsächlich umsetzen zu können – was ist daran so schwierig zu verstehen? Der Exzess führt direkt zur Kunst. Wer braucht das Berghain?
Der Exzess führt direkt zur Kunst 😂😂 sehr schön! Ich glaube ja, ein manisch-depressives Borderline-Gleichgewicht zwischen Exzess und Disziplin ist der Schlüssel zur Inspiration… wenn man es überlebt 🙃😉 🥂🍷
Wir kommen doch überall rein, und wo wir nicht reinkommen ist es eben einfach doof, spiessig, borniert...oder zu mainstreamig.