Verehrte Gefährtinnen und Begleiter, Lesende und Neugierige,
fragt Ihr Euch manchmal auch, wo Ihr zuhause seid? Ist das ein Ort, ein Zustand oder die Nähe zu einem geliebten Menschen? Ich bin als Kind mit meiner Mutter fast jedes Jahr umgezogen, jedesmal aus einem neuen Grund. Mal, weil die Miete zu teuer wurde, mal aus amourösen Gründen, manchmal vielleicht sogar einfach aus Abenteuerlust – jede neue Wohnung war ein neues Leben.
Später behielt ich diese Frequenz bei. Vor ein paar Jahren aber empfand ich Routine beim ewigen Umziehen. Das gewöhnliche Wohnen war mir langweilig geworden. Wie ein Bonvivant der 1920er Jahre in einem Hotel leben, das wär was! Ich zog für ein Jahr ins Hotel Art Nouveau in Berlin-Charlottenburg. Dort begann ich mit dem wöchentlichen Kolumnenschreiben, auf der Webseite des Hotels. Dort waren sie allerdings so gut versteckt, dass sie nur als Geheimtipp gelesen werden konnten.
Den folgenden Text hatte ich unter dem Eindruck einer erschütternden Theatererfahrung geschrieben. Heute habe ich ihn für Euch, meine lieben Sonntagskindfreundinnen und -freunde, aufgefrischt und republished. (Meine Tochter benutzt mit großer Lässigkeit englische Wörter in ihrem alltäglichen Sprachfluss. Ich will auch so lässig sein.)
Danke, dass Ihr mich wöchentlich schriftlich aufnehmt. Gelesen zu werden ist auch eine Art des Zuhauseseins. :-) Viel Spaß mit „Ebay-Kleinanzeigen”!
Neu – jetzt auch als Podcast
Wer Langeweile hat, braucht nur ein Inserat auf Ebay-Kleinanzeigen zu veröffentlichen. Einen populären Gegenstand für wenig Geld einstellen, z.B. einen Pax-Kleiderschrank von Ikea, ein altes Macbook, etc.
Ich hatte vor einiger Zeit meinen alten Flügel inseriert, ich brauchte Geld. Zur Anschauung postete ich noch einen Link zu einem Video, auf dem ich einen Jazzsong singe und das Instrument gut zur Geltung kommt. Dann kamen ein paar offensichtlich betrügerische Offerten von angeblich interessierten Käufern: ich sollte erstmal eine Gebühr ins Ausland überweisen, damit eine Spedition kommt, die würden dann das Geld in bar mitbringen.
Surrealer Sklavenmarkt
Ein Interessent ließ sich meine Telephonnummer geben, aber nur, um seine Kritik über meine Darbietung auf dem Video loszuwerden. „Dit Klavier klingt ja jut, aber dit Video is ja ooch eher spezjell jetz. Ick meine, wie du singst, dit is jetz nich total scheiße oder so, aber ebent janz schön spezjell, nischt füa unjut. Aba dit Klavier is eh zu teuer.“ Da darf man als Verkäufer nicht sensibel sein, auf Ebay-Kleinanzeigen geht es zu wie auf einem surrealen Sklavenmarkt. Den Anrufer habe ich mit ein paar scharfen Sätzen aus der Leitung werfen können, er hörte aber nicht auf, mir zu schreiben.
Ich krieg den falschen Hals nicht voll
Mittlerweile hatte er mir mitgeteilt, dass er mich nicht beleidigen wollte und es ihm leid täte, wenn ich da etwas in den falschen Hals bekommen hätte. Er hatte sich schon ein anderes Video von mir angesehen, das fand er super. Im Vergleich zu dem alten, das betonte er. Dann machte mich der bewertungsfreudige Ebayer darauf aufmerksam, wie strange meine Stimme klingt und fragte, welchen Sänger ich da eigentlich parodiere. Um schließlich anzubieten: „Für den halben Preis nehm ich den Flügel. Transport übernimmst du aber.“
Nach dem Theater ist die Welt meist schlechter
Auf der Bühne wäre eine Figur wie dieser Ebay-Terrorist unglaubwürdig. Seine Wirkung auf mich ähnelt aber der einer erschütternden Theateraufführung vor ein paar Tagen, einer zweieinhalbstündigen Text-Tortur. Wenn man ins Theater geht, sollte man anschließend nicht schlechter drauf sein als vorher, finde ich. Ich fühlte mich von Regiebösewichten seelisch vergewaltigt. „Warum muss bei euch im Theater alles immer so hässlich sein?“ fragte mich mal eine Sopranistin aus Armenien in einer Probe, als ich in einem großen deutschen Schauspielhaus ein Theaterstück orchestral vertonen durfte.
Metaphernragout
Ich suchte die Antwort in dem Akt, der gerade geprobt wurde: Ein Schauspieler mit Adolf-Hitler-Maske brüllt in ein Mikrophon, während er auf einem gynäkologischen Stuhl liegt und ein vor Blut triefendes Monster gebärt, das von Hebammen mit Totenschädeln triumphierend in die Höhe gehoben wird. Eine der Hebammen hat einen Karl-Marx-Bart und kichert. Dabei kriechen ein paar Leute auf allen Vieren über die Bühne und bellen, ein Mädchen macht Pipi. Auf High-Heels und mit Krücken stöckelt eine Raucherin mit verschmiertem Lippenstift an die Rampe und ruft: „Die Notdurft der Unterschicht ist das Parfum der herrschenden Klasse!“ Dazu dudelt ein verzerrter 50er-Jahre-Schlager aus einem imaginären Radio in Dauerschleife.
Das passiert, um den Zuschauer zum Nachdenken zu bringen, heißt es. Nach der Aufführung hat auch niemand Spaß. Lange Gesichter allerorten, Gesinnungs-Schals und Weißwein. Man steht mit ernster Attitüde im Foyer und führt Gespräche über die Neuordnung der Gesellschaft.
Ich glaube, auf Ebay-Kleinanzeigen findet sie schon statt.
Sonntagskind ist gratis. Wer meine Arbeit unterstützen will, kann gerne etwas bezahlen. Mit einem PayPal-Konto geht das gebührenfrei.
Wer neugierig geworden ist, was der ungeschickte Ebayrüpel da gehört hat: hier ist das Video von dem Rodgers- und Hart-Song „You are too beautiful” aus dem Jahr 1932. Wer der Meinung ist, dass ich einen bestimmten Sänger parodiere, darf mir gerne im Kommentar verraten, welchen. :-)
Vielleicht singe ich den Song bei meinem einzigen Bremer Solokonzert in diesem Jahr: am Sonntag, dem 10. September im Schönebecker Schloss um 18 Uhr. Kommst du? Schreib mir eine Mail, dann bereite ich eine Sonntagskind-Überraschung vor. mail@markscheibe.com
Es gibt jetzt einen zweiten Sonntagskind-Tag: unter „Happy Donnerstag” gibt es mal eine Buchempfehlung, mal eine Spotifyplaylist, mal einen Blues – alles immer eingebettet in eine charmante Geschichte. Am Tag, der in fast allen Sprachen dem jeu, der Freude gewidmet ist – nur bei uns dem Radau! Schau mal rein.
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Das Thaterstück war Germania, oder?
"Ich kann den falschen Hals nicht vollkriegen" 🤣 - ist das aus Deiner Feder? Jedenfalls klasse!