Als ich 6 Jahre alt war, hatte meine Mutter ein Verhältnis mit einem Automatenaufsteller. Der leerte nicht nur die Münzfächer der Groschengräber in Eckkneipen, er füllte auch die Jukeboxes mit Singles auf – in einer Zeit, als es in Kneipen nur Musik gab, wenn jemand eine Mark in den Schlitz warf. (Das Spotify der Boomer-Eltern). Die abgespielten Schallplatten brachte er bei uns zuhause vorbei. So saß ich eines Tages auf dem Wohnzimmerflokati und fand heraus, wie The Doors, Abba und Truck Stop klangen. Man musste einen kleinen schwarzen Plastikstern in das große Loch in der Mitte der Single einklemmen, damit sich die Platte auf dem Teller drehte, ohne zu eiern. Ich hörte „Una Paloma blanca“ und begriff, was ein Ohrwurm ist. Simon & Garfunkel schenkten mir die Erfahrung gesanglicher Sanftheit. Julio Iglesias sang „Wenn ein Schiff vorüberfährt, muss ich manchmal weinen“. Er sang nicht gerade akzentfrei, aber ich verstand jeden Ton – und warum er so sehnsüchtig klang.
Der Flokati brennt
Jedes Lied warf mich in eine andere Gefühlswelt. Aus den unzähligen Scheiben fiel mir dann eine mit einem orangefarbenen Etikett in die Hände. Das Lied hieß „Tutti Frutti“: Das klang so lustig, dass ich sicher war, es konnte nur für Kinder sein. Ich drückte den Stern ins Loch, platzierte die Platte auf dem Dual-Plattenspieler und senkte die Nadel auf den Rillenbeginn. Nach einer Knistersekunde ballerte es los. Ein Blitz schlug in mich ein. „A-wop-bop-a-loo-bop, a-lop-bam-boom“, der Flokati wurde zu einem lodernden Flammenmeer, ich drehte den Dual auf 11 und zappelte herum wie irre geworden.
Surreale Sporterfahrung
Weil ich so gern allein zuhause war, bekam ich allerdings die besorgniserregende Diagnose „Stubenhocker“. Der Junge sollte raus. Folglich musste ich Stollenschuhe anziehen und im Fußballverein einen Ball jagen. Ich erinnere mich, auf dem Feld zu stehen, der Ball kam von Ferne in hohem Bogen auf mich zugeflogen – ich drehte mich um und rannte weg. Der Trainer war schlau, er sah mein mangelndes Talent und legte mir nahe, weiteren surreale Sporterfahrungen aus dem Weg zu gehen. Viel wohler fühlte ich mich zuhause mit Elvis und Tutti Frutti.
Zwei Minuten, keine Halbzeit
Tutti Frutti ist ein mit wilder Spiellust zusammengerumpelter Packen guter Laune, hochkonzentriert. Nach der zweiten Strophe ereignet sich ein riskant begleitetes Gitarrensolo, das jeden Augenblick auseinanderzufallen droht, am Ende hört man Elvis sogar eine halbe Sekunde lang jodeln. Nach genau 2 Minuten ist der Song plötzlich zuende, die Welt ist eine bessere geworden und keiner hat ein Tor geschossen.
Der Autor bei der zeitgenössischen Interpretation eines klassischen Elvis-Moves, von bestechender Eleganz.
Die Tatsachentrottel von der Faktenfront
Was im Fußball die gegnerische Mannschaft ist, ist in der Musik die Realität. Sie will besiegt werden. Musik will die Wirklichkeit übertreffen, ohne deren Fans zu demütigen. Der Beat ringt den Sachverhalt nieder. Trommelschläge gegen den Stand der Dinge. Swingende Basslines lassen die starren Gegebenheiten blass aussehen. Magische Melodien schlagen dürftiges Dasein. Die Opponenten stehen sich unversöhnlich gegenüber: Die Poesiepioniere gegen die Tatsachentrottel von der Faktenfront.
Gegen treffende Verse und packende Hymnen kommt keine Exceltabelle an. Jeder Cent, der in der Jukebox landete: eine Investition in eine bessere Welt. Das wusste auch schon der Automatenaufsteller.