Mein Unterbewusstsein ist ein Snob. Es hat kein Interesse an der Gesellschaft auf dem Bahnsteig des Berliner Hauptbahnhofs. An der wuselnden Menschenmenge, die sich um die ächzend öffnende ICE-Tür drängt. Ich würde der nervösen Schar gern mit philanthropischer Güte begegnen, aber mein Unterbewusstsein ist der Meinung, dass die Bahncard erster Klasse auch nach dem Aussteigen noch gilt und verbietet mir zu lächeln. Es hält nach Privilegien Ausschau.
Wo ist das Empfangskomitee und die Pferdekutsche?. Mein Unterbewusstsein rümpft die hoch getragene Nase beim Anblick der Taxischlange und schlägt ein Carsharing-Auto vor. Zwar kann es als im Körper eines Einzelkinds wohnende Führungskraft mit „Sharing“ nicht viel anfangen, hält dies aber im Augenblick für die beste Option. Jetzt muss es mich nur ein paar hundert Meter bewegen, damit ich in einem neuwagenduftenden Auto Rückzug finde. Schnell nach Hause in die Hotelsuite, die Karre parken und ab in die Badewanne. Dort hat die Führungskraft erstmal Feierabend und ich kann alte Derrickfolgen1 gucken!
Auf der Leibnizstraße staut sich der Verkehr. Die Zufahrt ist versperrt. An der Straßenabsperrung steht ein Polizist, der mich mit hauptstadttypischem Charme anmotzt. Ich bin erschüttert: bei Derrick in München sind die einfachen Polizisten immer respektvoll bei Begegnungen mit der Oberschicht. Ich darf nicht weiterfahren, obwohl ich ihm versichere: „Mein Lieber! Ich wohne im Hotel Art Nouveau in der Leibnizstraße!“ Seine Körpersprache bedient sich am Wortschatz eines Brandenburger Türstehers, seine Mimik trägt Eigenheiten von Maximilian Krah und Alice Schwarzer. Ich weiche der Staatsmacht. Am südwestlichen Ende des Kurfürstendamms parke ich also das Mietauto und schaue schon so grimmig drein wie der unausgeglichene Wachtposten mit seinen Absperrungshütchen.
Verehrte liebe Freundinnen, Leser, Gefährten und Frühstücksliteraturgenießerinnen, manchmal bin ich ein Opfer meiner Maßlosigkeit: In vorsätzlicher Fehleinschätzung der mir zur Verfügung stehenden Zeit stapel ich die Tage mit Terminen voll. Dabei verzähle ich mich immer wieder, was die Anzahl der Stunden angeht. Zum Glück gibt es in dieser Nacht eine Stunde geschenkt, wenn die Uhr umgestellt wird. Aber was ist das für ein kleinliches Zeit-Almosen, eine lächerliche Stunde! Weil ich also in wahnhafter Vorbereitung der 27. Melodie des Lebens und dem Videoschnitt meines Geheimkonzerts neulich nur schwer mein Selbstbild vom Zeitlupendandy mit dem Füllfederhalter aufrechterhalten kann, schummel ich mit diesem Sonntagskind: Aufmerksame Lesende haben es schon gemerkt, dieser Text ist nur eine Wiedergeburt. Vor drei Jahren begab sich diese Ankunftsszene in Berlin, die mich in Bezug auf die Arroganz meines Über-Ichs nachdenklich machte. Euch möge sie zur Unterhaltung dienen, zum Amusement über einen zwanghaften Künstler, der auf der Achse Faultier / ADHS-Wiesel nur diese beiden Zustände kennt. Bis nächste Woche,
Euer Mark
Keine Chance, mit Grandezza, Gleichmut, Großzügigkeit zu flanieren. Ich grummele den Ku’damm von Halensee in Richtung Leibnizstaße entlang. Dann sehe ich die Endorphingesichter der an mir vorbeischwebenden Läuferinnen: Wippende Pferdeschwänze, neongelbe Schuhe. Freundliches Klatschen der Turnschuhsohlen auf dem Asphalt, Keuchen, Applaus und anfeuernder Jubel. Wo sonst Unternehmersöhne mit den zwölf Zylindern ihrer Familiensportwagen herumdröhnen, ist heute „Runner’s Night“, ich finde das gut!
Der autofreie Ku’damm
Meine Therapeutin hat mir geraten, mich im Bewerten ohne Begründen zu üben; die Läuferinnen finde ich gut. Ku’damm ohne Autos: gut. Erste Klasse: gut. Viele Menschen auf dem Bahnhof: nicht gut. Viele Menschen auf meinem Konzert: find ich gut. Der Polizist vorhin: nicht gut. Besonders das negative Bewerten macht Spaß, hatte ich es mir im Zuge der Prämisse positiven Denkens doch beinah abgewöhnt: immer konstruktiv sein und dem Müll der Welt, aller Nachlässig- und Hässlichkeit mit gewaltfreier Kommunikation begegnen! Offenbar bin ich für buddhistischen Gleichmut aber noch nicht alt genug, der menschliche Abgrund provoziert mich immer wieder, vor allem mein eigener – ich stehe lang noch nicht „darüber“.
Ein befreundeter Schlagersänger tratschte einmal leidenschaftlich über einen Kollegen und zeigte mir eine bemerkenswerte rhetorische Formel, mit der man einer Meinung die Robe der Wahrheit anziehen kann: „Ich mein das jetzt nicht wertend, was ich über XXX sage, aber er ist wirklich ein Riesenarschloch!“ Ich glaube, auch ihm war wichtig, dass er gewaltfrei kommuniziert. Gewaltfrei ist auch das Ende einer jeden Derrickfolge: zum Schluss leuchtet die Gerechtigkeit, oft gibt es noch eine Offenbarung moralischer Lebensklugheit vom Oberinspektor. Find ich gut. Ich lass noch etwas heißes Wasser nachlaufen und kann endlich lächeln.
Für die sehr jungen Lesenden: Derrick war die erfolgreichste deutsche Krimiserie im ZDF. Hier mehr darüber.
Danke für die notwendige Dosis Selbstreflektion am Sontag: "Zwar kann es als im Körper eines Einzelkinds wohnende Führungskraft mit „Sharing“ nicht viel anfangen..."
Und das verrückte ist, dass selbst, wenn es mir auffällt, ich dann oft auch nach dem Nachdenken weiterhin der Illusion verfalle, ich hätte diesen immanenten Führungsanspruch, weil ich es doch besser weißend auch sonst alle Argumente dafür sprechen.
Tatsächlich habe ich auch einen Hang zu Privilegien und spüre Verachtung für diejenigen, die es wagen mich zu behandeln, wie alle anderen auch. Die VIP, Gold und sonstwas Stati gehen nicht spurlos an einem vorüber. Man integriert sie irgendwann in die Persönlichkeit. Der Downer dabei ist, dass es einen eben auch unfrei macht, weil es einen dazu treiben kann, nach noch mehr Privilegien Ausschau zu halten. Spannend wird es ja erst, wenn wir diese Vorrechte mal alle nicht mehr haben. Besitzen wir dann genug Selbstvertrauen und Souveränität, dass wir uns immer noch lieb haben?
Mein Wunsch war es immer mal Millionär zu sein und superwichtig, so dass ich überall hinkann und mir nichts verschlossen bleibt. Eigentlich nur, um dann drauf großmütig zu verzichten. Aber kommt so ein Punkt dann wirklich?
Auch ich leide also an dieser einzelkindtypischen unbewussten Hybris :-) Wir sollten da mal eine gemeinsame Therapiesitzung abhalten :-))
Und ich dachte schon, warum brauchst du in Berlin ein Hotelzimmer? Da ich ja erst mit Dörte ins Sonntagskind eingestiegen bin, bringt mich diese alte Folge doch zum Lächeln und auch ein wenig innehalten. Denn dieses Gefühl der BahnCard First mit goldstatus macht auch was mit mir. Fühle mich dann auch , wie eine Diva. Schönen Sonntag