Es fährt ein Truck nach Nirgendwo. Okay, ich gebe zu, es ist kein Truck, es ist ein Transporter. Aber der ist bis unter die Decke vollgepackt mit Zeug.
Und wenn ich da vorne drin sitze, etwa eineinhalb Meter über den Kleinfahrzeuglingen, die wie Flundern unter mir hinwegzucken, dann fühle ich mich wie Gunter Gabriel. Ich versuche, mit tiefgelegter Stimme den herrlichen Säuferbass des Countrysängers zu imitieren: „Er fährt ‘n 30 Tonner Diesel und ist die meiste Zeit auf Tour, er gibt dabei sein bestes, Tag für Tag rund um die Uhr“.
Mein Brummi aber tankt keinen Diesel, sondern Drama: Meine Ladung ist mein Leben. Tagebuchähnliche Aufzeichnungen seit den frühen 80ern, handgeschriebene Partituren unveröffentlichter Orchesterwerke, Kladden mit genialen Geheimideen, die ich der Welt immer noch vorenthalte. Dazu: Trompeten, Synthesizer, eine kaputte Geige (ich bin sentimental), ein Schrankkoffer voller Adapter – USB auf Micro-USB, DIN auf XLR, HDMI auf Hoffnung. Die Adapter-Mafia lebt von mir.
Auch die Ladegeräte für die Nokia- und Sony-Ericsson-Handtelephone des frühen 21. Jahrhundert begleiten mich seit Jahrzehnten über Landesgrenzen hinweg. Die Handys natürlich auch – schließlich wird der Tag kommen, an dem ich die alten Gurken irgendwie an mein Macbook anschließen kann, um Zugriff auf lyrische SMS-Erotik der digitalen Steinzeit zu haben. Liebesbriefe hebt man doch auch auf!
Nicht, dass ich diesen Transfer nicht schon versucht hätte. Es klappt natürlich nicht. Aber weil auf den klotzigen Urzeittelephonen noch persönliche Manifeste erotischer Umnachtung schlummern, will ich die unhandlichen Knochen nebst ihren Ladestationen immer in meiner Nähe haben. Auch die Kiste mit den Kassetten voller Probenmitschnitte und ersten Songwritingversuchen reist seit Jahrzehnten mit. Ich bin es gewohnt, dies ist mein 35. Umzug. Wie eine Schnecke ihr Haus durch die Gärten schleppt, ziehe ich mein riesiges Archiv hinter mir her. Brauche ich das alles überhaupt? Könnte ich mich vielleicht viel schneller bewegen, wenn ich nicht immer daran denken würde, welche Schätze in den vergilbten Kammern der Erinnerung noch zu heben sind?
Letzte Nacht hatte ich Panik beim Einschlafen: Wie wäre es, wenn jemand meinen gemieteten Riesentransporter aufbricht und damit davonfährt? Die Briefe, hunderte Festplatten, unbeschriftete USB-Sticks, kistenweise Kladden – alles weg. Ich bekam sofort Atemnot. Und dann lächelte ich.
Nicht mehr der Einsiedlerkrebs sein, der in jedes neue Zuhause das alte Gerümpel schleppt – sondern frei die Luft des Neuen atmen! Nackt und leicht sein! Ein Künstler ohne Konserven.
Radikaler Neustart – die ganze Welt im Handgepäck?
Am nächsten Morgen war ich fast ein bisschen enttäuscht, dass die Karre noch da war.
Aber warum ziehe ich überhaupt ständig um? Warum der 35. Wohnortswechsel? Muss ich meine Sehnsucht in diesem übertriebenen Nomadenlifestyle ausdrücken?
Ich suche doch ein Zuhause, mein Zuhause. Meine Vagabundendramaturgie langweilt mich mittlerweile. Ich gähne beim Gedanken an weitere Umzüge. Wohnungen? Ich habe sie alle gehabt: Ich hauste in klammen Löchern in Souterrainlage, in lichtdurchfluteten Maisonetten, hörte den knarzenden Dielen stuckbeflankter Altbaupaläste zu, ließ mich unter den niedrigen Decken von hellhörigen Sechzigerjahre-Arbeiterschachteln deprimieren und genoss die riesigen, villenhaften Räume der Wohnung, die einst der legendären Kommune 1 um Rainer Langhans zur Selbstfindung diente. Ich schlief im besetzten Haus auf Europaletten und surfte das Jetsetgefühl des dauerhaften Lebens im Hotel. Das Land ist vermessen, jetzt geht es aufs Wasser, ich träume von einem Hausboot. Wasser unterm Arsch, Himmel im Blick – und endlich mal ein Ort, der nicht mit Erinnerungen zugestellt ist, sondern von der Welle der Gegenwart geschaukelt wird!
Vor ein paar staubigen Tagen, als ich mit dem Vorsatz penibler Organisation aus purer Verzweiflung vierzig Kartons mit der Aufschrift „Diverses” versehen musste, ging ich ins Theater. Ich hatte genau die richtige Menge innerer Zerrüttung für das Soloprogramm von John Cleese. Der 85-jährige wirbt damit, dass seine aktuelle Tour die letzte Chance bietet, ihn lebend zu sehen. John Cleese, dieses Comedygenie, das der Welt gezeigt hat, wie man Lächerlichkeit mit Eleganz verbindet. Wer lag nicht schon bei „Ministry of silly walks“ vor Lachen auf dem Boden? John Cleese, der britische Loriot, der Sir unter den Komödianten saß auf der Bühne und zeigte mit britischer Trockenheit, wie wichtig es ist, dass wir lachen. Dass Komik ein Rettungsring ist im Meer des Irrsinns.
Ich lachte Tränen. Und erkannte die Chance, selbst zu entscheiden, im ernsten oder heiteren Gewässer zu segeln. Will ich im scharf konturierten Licht brechtianischer Schlaumeierei ernsten Ärger in die Schreibmaschine hacken? Oder lieber mit Lust am Spiel Lachen unter die Leute zu jubeln versuchen? Ich entscheide: Mein Leben ist kein Trauerspiel, es ist eine Komödie. Mit Bühnenbildwechsel im Monatsrhythmus. Ich bin der Kalauerkapitän auf dem Ozean des Größenwahns, der lebende Reisewitz mit der Spedition im Herzen.
Wenn Ihr meint, dass es eine gute Idee ist, mir Glück zu wünschen, dass ich meinen Adapterkoffer bald in die Koje eines Hausbootes lege – ich nehme es, solange es nicht in Umzugskartons geliefert wird. Meinen Truck entlade ich erstmal in einem Selfstorage-Container. Vielleicht lass ich den ganzen Krempel da zurück und steche unbeschwert in See – ich halte Euch, meine sehr verehrte Sonntagskindgemeinschaft, mit Freude auf dem Laufenden. Bis nächste Woche beim 193. Sonntagskind. Wie schön, dass es Euch gibt!
Euer Mark
📚 Ein Text wird erst rund, wenn er Echo bekommt. Schreib mir – der Dialog ist das bessere Monolog-Ende:
Wer mag, darf mir direkt schreiben. Ich lese alles, auch zwischen den Zeilen – und antworte mit Seele.
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Ach ich lese Dich so gern, bin mit Dir unterwegs und lasse den Teil von mir, der auch gern so frei wäre, einfach mit Dir ziehen. Danke für die Mitfahrgelegenheit.
Ein besonderes Dankeschön geht an das Sonntagskind für diese aufschlussreichen Erkenntnisse.