Vor ein paar Tagen hatte ich ein Konzert, das als große Weihnachtsgala im Bremer Sendesaal angekündigt war. Erst drei Tage vor der Show habe ich begonnen, die Musik zu arrangieren – also die Noten für alle Orchesterinstrumente zu schreiben. In solchen „Kampfzeiten“ begleitet mich immer die Angst, das alles nicht zu schaffen. Andererseits laufe ich unter Abgabedruck zu kompositorischer Höchstform auf, ich brauche immer diese Deadline. Das Wort „Deadline“ ist keine Übertreibung. Vor der ersten Probe habe ich nach schlafloser Nacht die Noten zum Copyshop gemailt, damit sie dort gebunden werden. Durch das Dauerwachsein und die Aussicht auf den Wohlklang eines himmlischen Profi-Ensembles, das meine Kompositionen spielt, die druckfrisch auf dem Pult liegen, war ich voller genialischer Euphorie.
Weihnachtsengel sangen in meinem Kopf um die Wette, das klang wie Bach in modern. Dann kam der Bass des Todes. Mit finsterer Ruhe sang er mir vor, dass das alles ein Riesenreinfall wird. Dass ich scheitere. Dass es diesesmal endlich rauskommt, was für ein Blender und Nichtskönner ich bin, der die Gunst eines gebildeten und feinsinnigen Publikums längst überstrapaziert hat. Die Engel verstummten. Ich dachte: vielleicht hab ich ja endlich Corona und komm ohne Gesichtsverlust aus der Nummer raus. Als ich mir das Wattestäbchen tief in die Nase schob, fühlte ich mich bereits fiebrig und formulierte innerlich den Absagetext. Die Engel schluchzten. Erstaunlicherweise war aber wieder nur ein einziger roter Balken auf dem Tester. Ich habe kurz versucht, mit einem zweiten Strich das Testergebnis meinem inneren Zustand anzugleichen. Aber mit der Kante der Filzspitze eines großen roten Eddings führte das zu einem erbärmlichen Werk.
Erbärmliches Ergebnis eines halbdurchdachten Täuschungsversuchs.
Mit Anfang 20 war ich Ballettrepititor an einem Berliner Theater: jeden Morgen um 10 musste ich zwei Stunden lang das Ballettensemble am Klavier begleiten. Mein zu dieser Zeit zügelloser Lebenswandel vertrug sich nicht mit der festen Dauerverabredung am frühen Morgen. Ich war schon ein paar Mal durch Zuspätkommen aufgefallen, zweimal habe ich sogar komplett verpennt. Das kommt am Theater nicht gut, man sinkt bei soetwas rapide in der Kollegengunst. Ich wusste, dass ich mir das nicht nochmal erlauben durfte.
Mein Herz raste. 15:23 stand auf dem Radiowecker. Es könnte sein, dass auch damals schon der Todesbass seine Stimme erhob. Eine andere flüsterte mir aber ein aufwändiges Täuschungsmanöver ein, um mein Gesicht zu retten: ich rief einen Freund an, er kam vorbei und verpasste mir einen Knutschfleck unter dem Auge. Das sah schlimm aus. Mit der Spitze einer Nagelschere gestaltete ich vorsichtig ein paar leicht blutige Kratzer im Gesicht. Mit etwas Balkonerde bearbeitete ich meinen Anzug, dass es aussah, ich hätte mich auf dem Boden gewälzt. Zum Schluss kam das fieseste: Ich schlug mir selbst auf die Nase, um sie zum Bluten zu bringen, dann ließ ich laufen und sorgte dafür, dass auch mein Hemd mit roten Flecken Horror erzeugte. Ich riss mir noch ein paar Knöpfe ab, dann sprintete ich die zwei Kilometer zum Theater. Zerzaust und schwitzend hechtete ich voller Blut ins Büro der Dramaturgin. Ihr blieb der Atem stehen. Ich keuchte, dass es mir leid tut, dass ich nicht kommen konnte und dass ich in großen Schwierigkeiten steckte. Sie wollte mir helfen, einen Arzt rufen, ich winkte ab. Erleichtert spazierte ich aus dem Haus. Nicht ohne Stolz, dass meine kleine Theateraufführung gelungen war – in diesem legendären Tempel der Schauspielkunst, in dem schon Max Reinhardt viel größere Illusionen erzeugt hat.
Am nächsten Morgen kam ich pünktlich zur Probe. Alle hatten schon von meinem Auftritt gehört und begegneten mir mit Mitgefühl und Verständnis. Vor allem aber mit Neugier – sie wollten wissen, ob es Nazis sind oder die Russenmafia, mit denen ich zu tun hätte. Ob mir eine eifersüchtige Exfreundin Schläger auf den Hals gehetzt hätte. Einige boten Hilfe an und erwähnten gewisse Kontakte. Ich gab mich weiterhin geheimnisvoll. Die Wahrheit hätte zur fristlosen Kündigung geführt. Sollte das jemand der damals Beteiligten lesen: bitte verzeiht mir, ich war in innerer Not. Es tut mir leid, dass ich Euch so einen Bären aufgebunden habe.
Bei der Weihnachtsgala vor ein paar Tagen habe ich dann wieder Glück gehabt. Keiner hat was gemerkt!
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P.S.: Hinter diesem psychedelischen Konzertbild von Rolf Schoellkopf verbirgt sich ein kleiner Eindruck vom Finale der Weihnachtsgala.
Fake und Freude
die ewige Macht der Musik, divina musica...
Sehr schön!! 😂 …. es hat mich für eine nächste Kolumne über musikalische Notwehr inspiriert … 🙈 frohe Weihnachten und einen guten Rutsch ins kreative 2023 🍀🌟💥