Wenn ich eine Weile keinen Alkohol trinke, sehe ich richtig gut aus. Das erscheint mir erstrebenswert. Zwar liebe ich den Rausch, aber ich möchte nicht aussehen wie ein aufgedunsener Playboy Spätlese und dabei noch nicht mal Millionär sein. Es ist also die reine Eitelkeit, die mich vor der Sucht bewahrt, nicht etwa die Vernunft. Das ist mir wichtig! Denn für Schmeicheleien bin ich zu haben, auch vom eigenen Spiegelbild. Argumente hingegen sind so sexy wie deprimierte Finanzbeamte.
Dass die Argumente der Vernunft mich nicht erreichen, beweist das jährliche Desaster nach der Erkenntnis: Das aus dem Fenster geschmissene Geld war gar nicht meins und die Herrschaften vom Finanzamt hätten es gerne „wieder“. Fiele mir mit jedem verschwendeten Hunderter ein Bündel Haare aus oder bildete sich nach tausend verjuxten Euros eine hässliche Gesichtsrötung, wäre ich gewiss ein Sparfuchs. Aber soweit sind die noch nicht beim Finanzamt. Das einzige Farbenspiel, dass die drauf haben, ist gelbe Briefe schicken, wenn ich meine lila Scheine woanders angelegt habe als bei ihnen. Zum Beispiel im Waldorf-Astoria:
Im 15. Stock des Luxushotels am Bahnhof Zoo lasse ich mich in ein teures Polstermöbel der Library Bar fallen. Roberta Flack singt in kristallklarer Klangqualität „Strumming my pain with his fingers“ und klingt dabei so edel, dass ich denke: wenn Schmerz so schön klingt, dann hätt ich gern ein Gläschen davon. Der Barmann stellt sich schon von Weitem vor: mit einer extraordinairen Melange aus Diskretion und einladender Attitüde ruft er so, dass es gerade laut genug ist „Herzlich Willkommen!“ Er empfiehlt mir nach kurzer Anamnese einen Misovari. Das ist ein japanischer Whiskycocktail auf gewaschenem Eis. Der Barmann ist ein so freundlicher Teufel, dass ich nicht widerspreche.
Mit Blick auf den abgebrochenen Turm der Gedächtniskirche und Roberta Flack im Ohr ist die angemahnte Abgabe der Einkommensteuererklärung 2021 nur noch die Karikatur einer Erinnerung. Ich lasse meinen Blick an der Glaskante des torfgoldenen Cocktails vorbei über die Stadt schweifen. Das Finanzamt Charlottenburg ist nur eine ganz kleine Hütte in diesem herrlichen Ausblick.
Ich bin mir nicht sicher, ob der Barmann mir mit der Geschichte vom gewaschenen Eis nicht einen Berliner Bären aufgebunden hat. Jedenfalls habe ich sowenig von dem kostspieligen Drink genippt, dass er sich nicht physiognomisch auswirkt. Auf einen Bewirtungsbeleg verzichte ich, meine Finanzbeamtin wird stolz auf mich sein. Sie wirkt übrigens gar nicht deprimiert, sondern ist am Telephon immer ausgesprochen freundlich und geduldig, obwohl ich den Unterschied zwischen Umsatz und Einkommen immer noch nicht geschnallt habe . Trotzdem spüre ich, dass da eine gewisse Distanz zwischen uns ist. Vielleicht kann ich sie ja mal auf einen Drink einladen. Es gibt hier einen Cocktail, der heißt „Money Maker“. Ich bin sicher, der diabolische Experte aus dem 15. Stock weiß, was man waschen muss, um das Eis zu brechen.