Fräulein Feelgood muss weiter
Ein Loblied auf das Umziehen, das Strahlen und die Kunst, rechtzeitig zu verschwinden.
Atomic Elegance – Uran in der Aura
Das Beste am Wohnen ist das Einziehen: Ankommen, sich selbst in einem neuen Leben spüren. Wenn ich irgendwo einziehe, strahle ich wie ein Lastwagen voll Uran. Dann machen mir sogar die bewaffneten Drogendealer an der Straßenecke Komplimente für meinen Style. Atomic Elegance! Wir kommen ins Gespräch und erleben uns als bewegliche Teile einer funktionierenden Gesellschaft, in der alle kriegen, was sie brauchen. Organiserte Bedürfnisbefriedigung – ich kam, sah und leuchtete. Auch die Mafia besteht schließlich aus Menschen. Nur durch meine Aura therapiere ich eine Parallelgesellschaft.
Kosmos-Kleingeld und ein himmlischer Hofstaat
Die Nachbarin, die den ganzen Tag im Café sitzt, nehme ich als Meisterin buddhistischer Lebenskunst wahr. Wir grüßen uns stumm und erkennen einander. Der Mann vom Zeitungskiosk erscheint mir als Gesandter einer großzügigeren Welt: Wenn er beim Kassieren den Betrag der Einfachheit halber um ein paar Cent abrundet, damit wir breitspurig empfindenden Edelwesen unsere wertvolle Lebenszeit nicht an pingelige Kommabeträge hängen müssen, erlebe ich ihn und mich als Verbündete in einer übergeordneten Philosophie. Wechselgeld und Weltfrieden: Beim Zen kommt es auf den Cent nicht an.
Sind diese Tauben, die den Raum über mir auf Straßenlaternen, Simsen und Stromkabeln bevölkern, nicht engelhafte Lufthoheiten, die meinen Weg wie ein fliegender Hofstaat begleiten? War der Umzugswagen da, ist das Leben wunderbar!
Liebesküsse von Lady Lebensabend
In der Phase des Einzugs haben Übelmut und Zweifel Sendepause. Nach ein paar Wochen kommt dann leider Madame Realität und knockt das Fräulein Feelgood mit gezielten Schlägen aus. Dann sehe ich in der Dame im Café nur die verbitterte Säuferin, die alle ihre Freunde vergrault hat und sich schon lange von Lady Lebensabend die Seele vergiften lässt. Den Spätichef erkenne ich als Blender, der sich dafür schämt, beim Kopfrechnen in der Schule nicht aufgepasst zu haben und nur so tut, als wäre er generös. Er hat sich von Landgräfin Lebenslüge in eine Scheinexistenz hineinlabern lassen. Die Drogenverkäufer schauen mich jetzt auch so böse an, wie sie es sich monatelang antrainiert haben.
Herzogin Herzlos hat sie fest im Würgegriff. Ich ertappe mich dabei, wie ich den linkischen Clangangstern, die auf die Straße spucken und Frauen nicht die Hand geben, heimlich die Remigration an den Hals wünsche. Und doch ist es nur meine eigene Schwärze, die mir in den Fremden entgegendunkelt – vorher sah ich sie alle schließlich durch die rosa Brille und sie flimmerten auf derselben Welle zurück. Ist es so einfach? Wie man in den Menschenwald hineinruft, so schallt es aus ihm heraus?
Übergangslösungen für die Ewigkeit
Eigentlich müsste man beim ersten Antrittsbesuch von Madame Realität sofort wieder umziehen, Fräulein Feelgood hinterher. Wer in seinem Herzen wohnt, kann sich überall einrichten, nicht wahr?
Als Kind zog ich schon einmal im Jahr um, es hat sich so ergeben. Meine Mama baute aus jeder Bude ein gemütliches Nest. Krempelte jede schnöde Zweizimmerwohnung auf links, tapezierte, malte, konstruierte Einbaumöbel, die sie nach gemeinsamen Baumarktbesuchen in verwinkelte Dachschrägen hineinwerkelte oder mit denen sie unansehnliche Waschbecken verkleidete.
Als ich volljährig vom letzten aktuellen Zuhause auszog, könnte ich mir die Skills des Wohnhandwerks abgeschaut haben, sollte man meinen. Ich übersprang stattdessen ein paar Evolutionsschritte in entgegengesetzter Richtung und wurde Höhlenmensch:
Postmoderne Neandertaligkeit
Manchmal hielt ich es Monate in Räumen mit heruntergerissener Tapete aus, in denen ich auf einer Matratze zwischen Kartons um den Sinn des Lebens einen großen Bogen machte. Nach einiger Zeit dienten die noch verschlossenen Kisten als Tische, auf denen Kaffeeflecken dazu einluden, Zigaretten in ihnen auszudrücken.
Die Matratze war dabei so eine Art Zentrale, von der aus alles gelebt wurde. Sie war TV-Sofa, Nachdenkstation, Musikhörstudio, Abhängstätte, Orgientempel, Rückzugsort und mehr, bis zur umzugsindizierenden Vermüllung. Erst nach mehrmaliger Wiederholung dieses Prozederes auf niedrigstem Nomaden-Niveau fand ich zu einem zivilisierten Selbst, das so etwas wie Wohnkultur entwickelt hat.
Die Philosophie der Spedition
Heute sorgt Erzbaronin Expansions-Excitement dafür, dass ich alle paar Monate Uran in mir finde und in eine neue Umgebung hineinexplodieren will. Nur in Bewegung kann ich der sein, der ich zuhause nie bin. Heimat ist kein Mietvertrag, das Strahlen findet im Moment der Verwandlung statt – und verschwindet, wenn ich nicht weiterziehe.
Auch das 185. Sonntagskind kommt gratis aus dem Internet, so wird es bleiben. Das ist meine soziale Kompensation der vielen Anmaßungen, die ich mir hier erlaube. Trotzdem freue ich mich über jede Zuwendung. Wer mag, wirft mit Geld:
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Zum Thema „Umzug & Wohnen” lege ich auch die folgenden Kolumnen ans Herz:
Der Salon to go
In Berlin findet sich der vornehme Palais in derselben Nachbarschaft wie die verwahrloste Anarchist*innen-WG. Ein Beautysalon für Millionärinnen liegt gleich neben der Gaststätte mit dem Namen „Klo“, in dem sich Ausscheidungsfetischisten ihr Pils unter Gleichgesinnten schmecken lassen.
IN EINEM FREMDEN HOTEL (Repost)
Das Parkett, dessen Knarren mir bei jedem Schritt ein Herzrasen schenkte, lässt mich schon seit einiger Zeit kalt. Früher habe ich jede Sohlenberührung zelebriert, heute latsch ich über das Fischgrätenmuster einfach rüber und grummle nebenbei lustlos Anweisungen in mein Handy. „Bitcoins jetzt nachkaufen. Weg mit den nachhaltigen ETFs, bei Gas und Kohle …
Wunderschön 🤩 hab mich sehr in meinem Herzen berührt 🙏😍
🤩 manchmal wartet der neandertaler auf einen Kuss einer Fee 🧚♀️.. oder eine Fee möchte in eine Höhle gelockt werden und endlich eine Metamorphose machen und endlich eine echte Frau aus Fleisch und Blut 🩸 werden 🌊oder doch Salzwasser ? Liebste Grüße 🖖
Sehr gut!!!