Der gefiederte Ball fliegt in aller Ruhe auf dich zu. Dein Körper und dein Geist begegnen dem Objekt mit Konzentration. Du bist eine Zen-Buddhistin, du spielst Federball.
Während gestresste Aperol-Spritz-Konsumenten auf von Club-Beiträgen finanzierten Plätzen schmucklosen Tennisbällen hinterherjapsen, federst du im Flow. Die Sportsfreunde mit den Schweißbändern unterwerfen sich dem Diktat einer granatenhaft geschmetterten Kugel, du schwingst in der grenzenlosen Natur deinen schwebend leichten Schläger. Im Einklang mit dem Wind.
Dass Tennisspieler ihr knechtiges Game auf einem Granulat aus gemahlenen Dachziegeln zelebrieren, weist auf die desolaten Oberstübchen der Freizeitsportler in Weiß hin. Männer, die sich anziehen wie Chirurgen am Sonntag und Frauen im Bumshäschenlook springen kaninchenhaft in ihrem Auslaufkarree von achteinhalb Metern umher. Wie elegant ist dagegen Federball! Grenzenlose Freiheit und ein Aufschlaggeräusch zum Niederknien! Tennis ist das Techtelmechtel windiger Wichtigtuer, Federball Fun für Freigeister!
Ein freier Geist ist wichtig, sagt meine Astrologin. Wir bekommen jetzt nämlich eine neue Zeit. Goldene Jahre für Träumer, Spinner und Tunichtgute! Der beflügelte Ball der Erkenntnis rast direkt auf uns zu. Wir schauen auf eine Epoche zurück, sagt die Expertin mit dem besonderen Blick auf die Welt, in der das Vordergründige den Ton angab. Die Herrschaft des Rationalen, Messbaren, Prüfbaren bescherte uns enorme Fortschritte: Industrialisierung, Telephon, Radio, Medizin, Computer – genial! Andererseits waren diese letzten 220 Jahre für die Intuitiven unter uns finsteres Mittelalter, sagt sie. Schlechte Zeiten für Phantasten. Das Lustprinzip hatte beim Preisskat der Weltanschauungen keine guten Karten. Jetzt aber zieht easy Living ein Ass aus dem Ärmel, die Luftepoche steht vor der Tür. Pluto geht in den Wassermann und knallt den Gestrigen ein Full House auf den morschen Spieltisch.
Wir stehen an einer Weiche, so blitzt es unter den toupierten Brauen meiner Expertin für inoffizielle Wahrheiten heraus. Ein Teil von uns, so die charismatische Gurulady, geht direkt ins Zeitalter der Vernetzung, in die Ära der sozialen Intelligenz. Die anderen aber, die Sternendeuterin mit der goldenen Aura macht eine verächtliche Wischbewegung als knallte sie mit der Rückhand einen ungewollten Ball in den Äther, erfüllen die Dystopie einer manipulierten Sklavengesellschaft: in ihrer virtuellen Scheinwelt ernähren sie sich vom geistigen Fastfood pervertierter Massenmedien. Die Fontäne des Wissens sprudelt chancenlos an ihnen vorbei. Wer niemals Linguine al Limone genoss, hält Burger King für ein Restaurant. Ohne kulturelle Bildung fühlt man sich dann von RTL+ ausreichend kulturell versorgt.
Weil ich weiß, dass meine Sonntagskindleserinnen und Frühstücksliteraturconnaisseure noch die alten Fernseher mit den drei Knöpfen haben und nicht ahnen, was RTL+ ist, will ich aus der Parallelwelt der prekären TV-Unterhaltung berichten, ich habe für euch hingeschaut! Donnerstags gibt es auf RTL+ immer eine neue Folge „Temptation Island”: eine Handvoll Paare aus dem Kosmos der schillernden Bedeutungslosigkeit kombinieren einen paradiesischen Urlaub am Meer mit lustigem Psychoterror: Die Paare werden getrennt in zwei Villen untergebracht. Die Männer wohnen in einem Haus, das regelmäßig von sogennanten Verführerinnen besucht wird: 12 heiße Ladies mit knappen Höschen und Bock auf Party ohne viel Gequatsche spendieren Champagnerduschen und Komplimente für Ausstrahlung und Bizeps.
Das weckt die Libido der Umschmeichelten, es kommt zu halbverklemmten sexualisierten Mikrohandlungen. Es ist ja allen bewusst, dass die ganze Show ein Treuetest ist, aber die Jungs schlürfen den ganzen Tag Cocktails und das lockert auf. Natürlich werden diese Feierlichkeiten gefilmt. Die besten Momente kriegen die Freundinnen der Urlauber von den netten RTL-Leuten vorgeführt. Daraufhin bekommen die Damen Zweifel an der Exklusivität der Liebe ihrer Boyfriends. Damit sie mit dem Schmerz nicht alleine sind, werden auch sie besucht: ein Dutzend männlicher Models in sexy Laune wird von der Redaktion herbeigerufen. Die knackigen Callboys kümmern sich um die erschütterten Girls. Sie hören ihnen zu, schauen ihnen tief in die Augen, versichern Verständnis und stellen zur Ablenkung heiße Nächte in Aussicht. Brot und Spiele 2.0.
Ich muss sagen, mir macht sowas Spaß. Vor allem nach einer Partie Federball unter dem verheißungsvollen Sternenhimmel.
In bester Laune und voller Zuversicht, dass wir alle uns für soziale Intelligenz entscheiden, wünsche ich Euch einen herrlichen Sonntag,
Euer Mark
Sonntagskind ist gratis – seit fast drei Jahren jeden Sonntag. Wer trotzdem ein paar Euro dafür über hat, macht mir eine große Freude!
P.S.: Wer von der alten Zeit nicht lassen will, freut sich an dieser Sonntagskindkolumne:
in der Tat...von Bachelors bis Temptation Island und"Take me out."....es kennt keine Gnade dass RTL Imperium......der Untergang des Abendlandes..