Wem gehören eigentlich die zahllosen Stunden, die du schon in Warteschleifen sogenannter Hotlines verbracht hast? Die Ewigkeiten, in denen du dir aus Höflichkeit unnötiges Geschwafel angehört hast? Was passiert in der Unendlichkeit eines Augenblicks, den es angeblich dauert, bis dein Cappuccino endlich vor dir steht?
Niemand kann diese Frage beantworten. Aber in einer Branche, die ein besonders intensives Verhältnis zu Zeit inne hat, werden gerade die Schrauben an den Uhrzeigern enger gezogen: Wo man sich Mittwoch nachmittags und am Freitag mit Terminen rar macht, will man sich gegen Raubüberfälle von Zeitdieben schützen.
Der Kassenärzteverband verlangt, dass Krankenkassen für unentschuldigt fehlende Patienten Entschädigungen zahlen1. Das verstehe ich! Verabredungen sind einzuhalten, es sei denn, höhere Gewalt ist im Spiel oder man hat ein Messer im Rücken. Verbindlichkeit ist aber keine Einbahnstraße, liebe Damen und Herren Doktoren! Es ist doch meistens so, dass man wie verabredet um 8 Uhr 30 in die Praxis kommt, ready für die Behandlung. Dann hört man im überregional gültigen Branchenjargon der Praxismitarbeiterinnen den Satz „Sie dürfen dann noch im Wartezimmer Platz nehmen.“ – um in einem schmucklosen Raum an einem Tisch mit Magazinen der untersten journalistischen Kategorie sein Leben verstreichen zu lassen. Reagiert man dann nicht augenblicklich auf seinen in Unkenntnis der richtigen Aussprache gebellten Namen, wird sofort der nächste Kranke ins Behandlungszimmer befohlen. Von einer als Sprechstundenhilfe getarnten KGB-Offizierin mit diesem sibirischen Charme.
Der Praxis entsteht also kein Verlust – dafür stellen wir geduldigen Kassenpatienten unsere Zeit vorsichtshalber kollektiv zur Verfügung. Diese staut sich im Wartezimmer zugunsten der Praxis, sicher ist sicher.
Als ohnmächtig Wartender kann man die Zeit nutzen, um vom Status des Privatpatienten zu träumen: Termine mit der Hausärztin verabredet man persönlich auf dem Golfplatz, dann schenkt einem Madame Doktor bei der Anamnese einen 200 Jahre alten Cognac ein, der das Gespräch über Allergien, Vorerkrankungen und medizinische Erblasten begleitet. Die hochwertige Spirituose ist schon mit eingepreist. Erhebt man sich aus den Original-Thonet-Sesseln, fühlt man sich schon fast unsterblich.
Anders bekommen sensible Patienten sofort Symptome steigender Ablebewahrscheinlichkeit, wenn sie ihre AOK-Karte in den Berechtigungsschlitz des Prüfgeräts in der Praxis stecken. Aber es soll hier heute um den Wert der Zeit gehen.
Auch will ich zugeben, dass mir mein sympathischer Hausarzt am Klausener Platz niemals das Gefühl gibt, mein Versichertenstatus hätte irgendetwas mit der Aufmerksamkeit zu tun, die er mir widmet. Mein Gesicht wird von derselben Wagenfeldleuchte erhellt wie das Antlitz der privat versicherten Charlottenburger Witwe im Gucci-Zweiteiler.
Meine Zeit wird in dieser Praxis nicht gestohlen – ich selbst aber muss mich schuldig bekennen: Ja, ich stahl Zeit – und zwar en gros. Dabei bin ich gerade mal Arztneffe – und trotzdem riss ich mir haufenweise Fremdzeit unter den Nagel. Bis mir von Miriam die Leviten gelesen wurden:
Im Berliner Admiralspalast hatte ich eine monatliche Show mit Orchester auf die Bühne gebracht, die Berlin Revue2 – ein Konzert mit vielen Gästen. Um dem Künstlerklischee zu entsprechen, habe ich die Noten immer erst im letzten Moment geschrieben, also in der Nacht vor der Probe. Meist war ich dann zu Probenbeginn noch nicht fertig. Dann schickte ich eine SMS an 20 Musiker, dass ich noch zwei Stündchen brauche. Kurz vor Ablauf der von mir viel zu optimstisch behaupteten Frist schrieb ich noch eine Nachricht mit einer weiteren Verzögerung.
„Täusche einen Unfall vor und sag die Sache ab!” – flüsterte ein um meinen Blutdruck besorgter innerer Teufel. „Oder stell dich tot und behaupte morgen, du seist wegen Erschöpfung in Ohnmacht gefallen.” Nachdem ich alle Optionen durchgegangen bin, ohne Gesichtsverlust aus der Nummer rauszukommen, setzte ich mich angstschweißgetüncht mit dem Drucker unterm Arm ins Taxi. Auf der Probe habe ich die frischen Noten direkt auf die Pulte des Orchesters geprintet – und fühlte mich mindestens so genial wie Dr. Albert Schweitzer. Ich hatte es mal wieder geschafft! Bis Miriam mich unter den Teppich holte: „Wenn du 20 Leute 3 Stunden warten lässt, weil du es nicht auf die Reihe kriegst, ein bisschen früher mit dem Komponieren zu beginnen, hast du uns 20 mal 3 Stunden, also 60 Stunden gestohlen, an einem Vormittag. Lass das sein.“ Ich muss sagen, das hat gesessen. Auch wenn ich sonst für Kritik unempfindlich bin, das leuchtete mir ein, seitdem bin ich besser geworden. Erstaunlicherweise habe ich trotzdem mehr Zeit, das muss Dialektik sein – lieber Kassenärzteverband, ich hab gerade ein Stündchen - soll ich Euch mal Miriams Nummer schicken?
In diesem Zeit-Artikel steht alles.
Wer nicht dabei war: hier ein TV-Beitrag von 2009.
Danke!🙏 Sehr interessantes Thema. Mein Philo Lehrer sagte jeweils zum Thema Eile; “was machst Du am Ende Deines Lebens mit der gewonnenen Zeit?”
Ich bin meistens dankbar, wenn ich eine Wartepause kriege - kann ja auf Substack nen guten Artikel lesen. Pause. Ich plädiere für mehr Wartezeiten! Einfach als Gegenposition (-,
Danuk, würde meine Chefin sagen, denn sie kann nur Kinderdeutsch. Die Thais nehmen das mit der Grammatik nicht so genau. Ähnliche Erfahrungen habe ich in den letzten Jahren im Krankenhaus gemacht, wo Stundenlanges warten auf absolute Hetze trifft, wenn derdiedas Patient nicht SOFORT bereit ist, sich Blut und Sauerstoff Gehalt usw. freiwillig abzugeben. Warteschleifen sind meine Lieblings Nummern, da ich nicht mehr laufen kann, bin ich auf Lieferdienste angewiesen, die haben aber auch nie Zeit, wenn ich es nicht innerhalb von 5 Sekunden zur Tür schaffe, klingeln sie Sturm oder rufen mich wie in Panikattacken in Pankow an, so wie der Alarm letzten Freitag. Wir sind im Krieg. Es geht nur noch um Geld und alles an neuen Filmen ist sowas von Computer generierte Sss, den neuen Film Gemini musste ich nach 22 Minuten stoppen, sonst hätte ich Krampfanfälle bekommen. Ich bin sehr enttäuscht von dieser Zukunft, aber ich habe wie Elvis und Mozart meine 42 Jahre abgelebt und freue mich auf die Reinkarnation als B-Meise. Mit Menschen.... Ach irgendwie ist da damals in Eden was schief gefüttert worden. Schönen Sonntag, dem Tag des Herrn und an alle Guten Geister dieser Welt. Und Mark, Du bleibst mein Idol🙏🏻