Verehrte Sonntagskind-Reader, Freundinnen der Frühstücksliteratur,
ich danke für die herzlichen Mails und Kommentare zum letzten Sonntagskind. Auch freue ich mich sehr über die neuen Abonnentinnen und Abonnenten, die euren Empfehlungen folgten. Auf diese Weise entsteht eine wohltuende Nähe – danke! Es ist schön, das Sonntagskind für euch zu entwickeln. Und durch eure Resonanz auch mit euch. Was für ein angenehmes Verhältnis! Weiter unten habe ich noch eine Bitte, jetzt aber erstmal viel Spaß beim Lesen von Sonntagskind 122. Baba aus Wien, euer
Ich geh ins Theater! Schon auf dem Weg übers Trottoir, in der abendlichen Dunkelheit bin ich aufgeregt wie vor einem Date. Ich trage rahmengenähte Lackschuhe und einen schlichten Smoking mit Goldrand. Vor dem Wiener Burgtheater traubt sich tuschelnd die Schar der Kunstliebenden. Mit leichter Beschleunigung, gerade soviel, dass die allgemeine Eleganz nicht wackelt, stolzt die Menge ins marmorne Foyer des Wiener Burgtheaters. Mein Herz schlägt wie das eines Teenagers vor dem ersten Treffen mit der Begehrten, nach wochenlangem Briefwechsel, der zwischen den Zeilen mehr und mehr an erotischer Ladung gewann. Ob sich die Erwartung erfüllen wird?
Trostlose Theaterdates
Meine Theaterdates sind häufig traumatisierende Treffen: statt inspirierende, die Lebenslust aufpeitschende Bühnenbegegnungen zu haben, sitze ich mit Britta Belehrung, Betty Belästigung und Lana Langeweile am Theatertisch. Klara Klassenkampf kippelt meistens auch auf ihrem unbequemen Schemel herum.
Samtige Sitze, strenge Sitten
Entsprechend angespannt harre ich im weinroten Samtsitz des riesigen Bühnenhauses. Licht aus, ein Häufchen Frau liegt leidend im Halbschatten, eine Gesellschaft tuschelt über sie. Köpfe stapeln sich wie in einer Geisterbahn aus einem Türspalt heraus und klären die Leidende über ihr Schicksal auf. Sie soll einen gewissen Demetrius heiraten, den sie aber nicht will. Der Vater und seine Gesellschaft bedeuten ihr, dass sie entweder in die Ehe einstimmt oder für immer keusch ins Kloster geht. Oder stirbt.
Bannende Bühne, wahnsinnige Wirklichkeit
Das ist kaum auszuhalten, „arme Hermia“ denke ich – die Bühne bannt, ich bin mittendrin. Und ich muss an Azra (sie heißt anders) denken, eine sechzehnjährige Schülerin, mit der ich gerade in meinem Projekt „Melodie des Lebens“ arbeite, wir schreiben zusammen ein Liebeslied. Sie erzählt mir: „Klar darf ich einen Freund haben. Nur muss der Moslem sein, sonst dreht mein Vater durch.“ – und macht dabei eine Kopf-ab-Geste vor ihrem Hals. Ich spüre Azras Ohnmacht, und meine eigene, weil ich an diesem unwürdigen Zustand nichts zu verändern vermag.
Poesie statt Pöbel
Hermia liebt Lysander, er sie auch. Die beiden treffen sich heimlich, eine erste Träne besucht meine Wange. Der Wald ist still und dunkel. Nur ein paar kahle Bäumchen staken in den schwarzen Himmel. Wo sonst Laub und Unterholz sich mischen, verrotten Autowracks. Dazu lassen verhallte Stabspiele, Glocken, eine Art Steeldrum und ein gedämpftes Klavier die Ballade der verschandelten Natur erklingen. Eine Betroffenheit packt mich, die kein Dossier in der ZEIT über den Klimawandel hinbekommt. Meine Anspannung ist aber noch nicht ganz weg, gleich brüllt doch bestimmt ein blutüberströmtes Vergewaltigungsopfer Naziparolen in ein Megaphon, während das Ensemble ein von Transpersonen mit Borderlinediagnose entworfenes Manifest zum Umsturz der Gesellschaftsordnung im Chor von der Bühnenkante bellt.
Verständnis jenseits des Inhalts
Stattdessen tänzelt ein superschlanker Herr in einer Nixenhaut und mit Marge-Simpson-Turmfrisur in die Nacht hinein. Die Elfenkönigin Titania – sie streitet mit ihrem Mann um das Sorgerecht für ein Kind, die beiden unterstellen sich Affären und beschimpfen einander. Mir leuchtet nicht ein, warum da jetzt auf einmal Elfen sind, aber ich muss ja nicht alles verstehen. Dafür begreife ich, worum es geht, denn ich kenne die Gefühle, von denen die Figuren getrieben sind. Drogen kommen ins Spiel, um andere gefügig zu machen, durch Zauber Liebe umzulenken – das führt zu schrecklichen Irritationen – und zu einem Bild, das meinen Tränen Flut bereitet: die sich hassen, liegen sich in den Armen und verstehen für einen Moment nicht mehr den Grund ihrer Feindschaft. Dieses Bild wird mir Pate stehen, wenn ich das nächste Mal von ganzem Herzen hasse.
Statt Anmaßung Atmosphäre
Ich kannte den Sommernachtstraum noch nicht mal aus der Schule. Ich bin selbst erstaunt, wie gut ich mit einem Minimum an Allgemeinbildung soviele Jahrzehnte den Eindruck kultureller Kompetenz vortäuschen konnte! Seit heute bin ich Shakespearefan. Wenn einer Stücke schreibt, die nach 400 Jahren mit Sinn berühren, und auf mein Denken und Verhalten Einfluss nehmen, ist der einfach ein fucking genius. Statt Frollein Belehrung und den Damen Langeweile und Belästigung hatten vor allem Madame Atmosphäre und Lady Berührung (deep) das Zepter in der Hand. Ich will die beiden jetzt häufiger treffen. Ich empfehle einen Trip nach Wien ins Burgtheater.
Noch mehr Sonntagskindkolumnen mit Theaterbezug? Bittesehr:
Postdramatische Verrohung
Orgienmusik
Fame on you
Nur für euch, fürs Sonntagsfrühstück: meine unveröffentlichte Ballade mit dem schlichten Titel „Herbst”. Aufgenommen im Sendesaal Bremen, im September 2017.
Während ich im Text des Chansons die Geistesverwandtschaft mit Kollege Shakespeare demonstriere, habe ich mich beim Design des Plattencovers an meinem Style-Vorbild Richard Clayderman orientiert:
Hier der Beweis:
Verschweigen will ich nicht an dieser Stelle,
wie sehr nebst Kommentar, Like und Empfehlung
der Zauber einer monetären Welle
mein Wohlbefinden ändert durch Erhebung.
Nun zu meiner Bitte:
Für den nächsten Sonntagskind Podcast wünsche ich mir den Wohlklang eurer Stimmen. Die fettgedruckten Zwischenüberschriften wollen von euch gelesen werden. Eine einfache Aufnahme mit dem Telephon genügt, dann per Mail an mich: podcast@markscheibe.com Es geht um folgende Zeilen:
Trostlose Theaterdates
Samtige Sitze, strenge Sitten
Bannende Bühne, wahnsinnige Wirklichkeit
Poesie statt Pöbel
Verständnis jenseits des Inhalts
Statt Anmaßung Atmosphäre
Wer desweiteren Lust hat, auch noch die eine oder andere Zwischenüberschrift der vorherigen zwei Kolumnen zu sprechen, möge nicht zögern:
Noblesse in Not
Triebwagen des Terrors
Zeit und Zwang
Der fatale Fahrplan
Debakeldämpfung mit dem Drittel-Drive
DB-Dialektik
Das Geheimnis des Wortes
Kritische Christen
Magisches Wörterverstecken
Das Monster im Spiegel
Eskalation des Vulgären
Annabella und der Anspruch
Kein Spiel für Schamäleons
Das würde mir gefallen, ich freue mich auf eure Aufnahmen. Danke!
Willst du Teil des Zirkels sein,
der’s Frühstück literarisch ziert
und sonntags heftig zelebriert?
Steig mit einem Abo ein!
Findst du, Sonntagskind hat Stil?
Empfiehl!
Bis nächsten Sonntag, Freunde. Wie schön, dass es euch gibt!
Glücklicherweise ist Wien bezogen auf das Theater nicht Berlin…musste herzlich lachen! Solltest Du im Sommer wieder in Wien sein, empfehle ich Dir den Sommernachtstraum außerdem im Theater im Park! ( von und mit Michael Vaharani) das ist ganz famos !
Der feine Herr Scheibe hat sich erneut in Wortgewandheit und N.tee Taintented love übertroffen und ich bin leider noch B und danke Dir trotzdem für den Austausch in den Sommernachtstraum! Liebe Grüße aus der Heimatstadt!