Im Dezember habe ich mich fast ausschließlich von Marzipan und Champagner ernährt. Nur als Beilage gab es gelegentlich eine Pizza oder ein Käsebrot. Jeder Versuchung, einen beliebigen Anlass zu zelebrieren, gab ich nach. Man brauchte mich nicht zu überreden, um wegen eines tiefsinnig schmeckenden Negroni um 3 Uhr nachts noch in die Galander Bar zu gehen. Bei einem privaten Essen zum Abschied noch eine Flasche Domaine de l’Horizon zu öffnen, erschien mir folgerichtig. Auch, dass nach einer einzigen Flasche dann unmöglich Schluss sein konnte. Zum Frühstück wurde es dunkel, gegen die Schwermut half nur Süße. Das Marzipanbrot trägt nicht umsonst den Namen eines Grundnahrungsmittels. Der Spaziergang durch den Berliner Vorabend war mit einem leichten Anschluss-Schwips ein Vergnügen. Das ganze Jahr über begegnet man sonst auf den Straßen grimmigen Egomanen, die über den Gehsteig rüpeln. Psychopathen, die in ihr Handy brüllen. Vom Leben Geknüppelte wanken einem entgegen. Sie pinkeln gegen Postkästen, während zahnlose Frauen Tauben beschimpfen.
Der Autor in History-Laune. Photo: Martin Peterdamm
Im Dezember aber, mit einem wohldosierten Grundrausch: schwebende Beaus allerorten, galante Glücksmenschen, vor Grandezza strotzende Straßenköniginnen. Lächelnde Bonvivants und vom Schicksal Geküsste, die mit Kunstgeschick auf dem Gehweg wandeln. Ich bin einer von ihnen, ein Freigeist mit übertrieben erotischer Aura!
Als ob mir die Mandelpaste mit den Champagnerperlen einen Zaubermantel um die Schultern gelegt hätte. Der Berliner Müllschmäh verwandelt sich: aus motzigem Gepolter wird ein charmantes Vibrieren. Statt faulriechender Sneakers, die durch Hundekot schlotzen, hört man Pumps und Lackschuhe, die den Gehsteig dem Rhythmus der Leidenschaft unterwerfen. Kein Anorak mehr, der das Timbre der Stadt verraschelt – nur der edle Schleifklang von Seide und Cashmere.
Nein, eine rosa Brille reicht in dieser Stadt nicht aus. Man muss die Leuchtkraft eines ganzen Rotlichtbezirks vor dem Blick bündeln – nur so wird der legendäre Berliner 20-er-Jahre-Glamour wieder lebendig. Man muss ihn von einer hundertjährigen Schmutzschicht befreien, aus Gram, Groll und Stilverweigerung.
Anknüpfungspunkte gibt es reichlich, Berlin ist voller Tradition: an jeder Straßenecke hallt die Weimarer Republik ins Heute. Wenn wir ihren Klang nicht aufnehmen und mit Liebe ins Jetzt tragen, vermischt er sich mit dem Gemaule der Gegenwart und bildet eine Soundcollage des Grauens, sie klingt etwa so:
ein Rammsteinsong walzt ein Arbeiterlied von Brecht nieder, während ein Echo der sogenannten Loveparade seinen Dumpfbass durch die zersäbelten Gesänge der Comedian Harmonists quält. Währenddessen schreit ein hustender Taxifahrer.
Heute beobachte ich aus dem Fenster eine Kundgebung unzufriedener Berliner auf dem Stuttgarter Platz. Sie wollen, dass Putin endlich bekommt, was er verlangt, weil ihnen das Gas zu teuer ist. Eine Russlandfahne weht, aus dem Lautsprecher krächzt Ernst Busch „Ami go home“. Berlin ist immer ein gutes Pflaster für phantasievolle Meinungen, hier bekommt jeder ein Megaphon. Ich rufe aus dem Fenster: „Esst Marzipan, trinkt Champagner!” Sie hören mich nicht.
„Schlotzen“ ist wirklich ein Hammer-Wort 👍😂