Als ich 16 war, war die Welt sehr einfach. Wer die Veränderung der Gesellschaft wollte, stand auf der richtigen Seite. Alle anderen waren faschistoide Spießer und Chauvinisten. Für den 16-jährigen Mark bestand die Gesellschaft aus sogenannten Erwachsenen. Sie trugen hässliche Klamotten und beharrten auf starren Regeln, die ihm nicht einleuchteten. Aus meiner Perspektive war die Veränderung der Gesellschaft also ein Muss. Man kann sich heute kaum vorstellen, dass 1983 ein Bundeswehrgeneral seines Amtes enthoben wurde, weil er möglicherweise schwul war.
Ich erlebte als Kind, wie meine Mutter nach der Trennung von meinem Vater Arbeit suchte. Wann immer sie eine Anstellung als Buchhalterin in Aussicht hatte, kam sie freudestrahlend nach Hause. Nach ein paar Tagen stand dann ihr schwiemeliger neuer Chef mit Blumen von der Tanke vor der Tür, um mit ihr essen bzw. ihr an die Wäsche zu gehen. Er blitzte ab, dann klappte es doch nicht mit dem Job. Das passierte oft.
Damals hat sich kaum jemand für solche Geschichten interessiert, außer Alice Schwarzer. Das ist heute zum Glück ganz anders. Aus der Sicht meines 16-jährigen Ichs hat sich also eine Menge getan. Rückblickend kann ich sagen: es war gut, damals so einen Stress gemacht zu haben und für Gleichberechtigung und sexuelle Selbstbestimmung auf die Straße zu gehen. Ich wollte noch viel mehr: Gleichen Lohn für alle ohne Arbeitszwang, Abschaffung des Privateigentums, keine Bewaffnung der BRD, Ami go home, etc. Die revolutionären Gedanken haben mir Sinn gegeben, ich glaubte an die Notwendigkeit meines Engagements. Einiges hat sich im Laufe der Jahre in meinem damaligen Sinne getan, anderes zum Glück nicht.
Ich muss gestehen, dass ich nicht immer wusste, worum es ging, wenn ich „Solidarität mit Nicaragua!“ mitgebrüllt habe oder „Freiheit für Michael und Markus!“ Damals musste man im Widerstand immer das ganze Paket buchen. Wer gegen Atomkraft war, hatte auch etwas gegen den Polizeistaat zu haben.
Der Autor mit 16. Links eine schulbekannte Aktivistin aus der Feminismus-AG des Gymnasiums a. d. Hamburger Straße in Bremen. Photo: Lucas Muehlenweg, 1984
Eine Anti-Atomkraft-Demonstration in Brokdorf 1986 schlug die Polizei mit unangemessener Härte nieder. Einige sahen darin die Legitimierung, mit Gewalt zurückzuschlagen und zum „Schwarzen Block“ überzutreten. Modisch war das damals die entschlossenste Gruppe von uns, wie man in diesem ARD-Bericht über die Demo sieht. Mit meinen Anzügen und Lackschuhen hätte man mich dort nicht haben wollen, ich stand ohnehin im Verdacht, zur Bourgeoisie zu gehören. Dabei riss ich doch schon Mercedeslimousinen den Stern aus der Kühlerhaube, aus Protest gegen die Bonzen! Ich beruhigte mein Gewissen mit einer ausgeklügelten Philosophie: so ein reicher Typ kann sich seinen Scheißstern locker aus der Portokasse nachkaufen. Auch ein nicht abgeschlossenes Fahrrad nahm ich mit und fuhr nachts damit nach Hause. Ich ließ es auf der Straße stehen, denn: ein unabgeschlossenes Fahrrad gehörte dem Kollektiv.
Heute entspreche ich eher meinem Feindbild von früher. Ich habe mich schon bei dem Reflex ertappt, bei der Berliner Wahlwiederholung eine Koalition der Grünen mit der CDU herbeiwählen zu wollen.
Aus Respekt vor meiner eigenen Geschichte muss mein nicht mehr ganz 16-jähriges Ich also den heutigen jungen Leuten mit Weltverbesserungsabsicht das größtmögliche Verständnis entgegenbringen. Hier ein ungebetener Rat: „Ihr tut das Richtige, auch wenn ihr wahrscheinlich nicht immer recht habt. Macht weiter so, es kann nur besser werden. Begeht keine Straftaten, Ordnungswidrigkeiten sind in Ordnung. Ihr seid keine Terroristen, und die RAF war nicht cool. Haltet aus, dass die meisten Erwachsenen euch für woke Spinner halten und klaut keine Fahrräder.“
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