Gute Menschen, schlechte Menschen
Lady Gaga und die Heiligen von Niederschöneweide
Verehrte Damen und Herren, zum 215. Mal versuche ich, einen Brief an Euch zu schreiben – mit Herz, aber nicht seifig. Mit Ironie, aber nie ohne Liebe. Leicht soll es zu lesen sein, und trotzdem unter die Haut gehen dürfen. Heute ist Lady Gaga mit an Bord, die große Königin des Pop. Wer sich in ihrem Werk nicht auskennt: Die kursiv gesetzten Wörter sind Lady-Gaga-Songs. Viel Freude beim Lesen!
Wer mir eine Freude machen und dieser Kolumne zu Sichtbarkeit verhelfen mag, liked, kommentiert, teilt, restacked – oder erzählt rum, dass es mit Sonntagskind – die wöchentliche Kolumne ein wohltuendes Stück Literatur gibt, das die Absicht in sich trägt, nach ihrem Lesen möge das Gefühl ein besseres sein als vorher.
Wer hier zum ersten Mal vorbeischaut: Ich bin Mark Scheibe, ein freundlicher Snob, der mit seinem Steinway-Flügel auf einem Hausboot lebt. Ich gelte als weltweit ignorierter Künstler. Ein Geheimtipp bin ich als Opernkomponist und Jazzsänger. Auch als Schlagertexter, Astrologe und Marathonläufer halte ich mich aus Anstandsgründen dem Glitzerlicht der öffentlichen Bewunderung fern. Mit meiner wöchentlichen Kolumne „Sonntagskind” versuche ich mich vor dem natürlichen Andrang auf mein stetig wachsendes literarisches Oeuvre zu verstecken.
Die Mutter aller Vatergefühle
Lady Gaga! Meine Tochter ist ein Fan – mit Zehn besuchte sie ihr erstes Gaga-Konzert. Heute, vierzehn Jahre später, ist die Diva wieder in Berlin, die Tickets waren schnell verkauft. Weil ich glücklich bin, wenn meine Tochter es ist, suchte ich – und fand ein Angebot auf kleinanzeigen.de.
Der seriöse Selbstbetrug
Ich lasse mich bei so etwas nicht verarschen, also prüfe ich den Account. Er besteht seit fünf Jahren, der Name seiner Eigentümerin weist auf eine bestehende Adresse in der angegebenen Stadt, die Kommunikation wirkt seriös.
Also schicke ich 229 Euro über PayPal für das Ticket, das meine Tochter an die Bühnenkante der von ihr verehrten Künstlerin bringen soll. Dabei entwickle ich romantische Gefühle für die Verkäuferin und weine beinah vor Rührung, dass ich noch eine Karte für mein großes Mädchen bekommen habe.
Ticket to Desaster
Du ahnst es: Fake. Sie kam nicht rein. Eine eigene Schlange von Betrugsopfern hatte sich schon beim Einlass gebildet; die Polizei sagt, die Gangster haben allein bei diesem Lady-Gaga-Konzert über 70 000 Euro ergaunert. Very Bad Romance.
Bildung durch Verlust
Ich fühle mich wie damals. Als ich auf die Ganoven reingefallen bin, die am Alexanderplatz beim Hütchenspiel Touristen ausnahmen. Ich war mir doch ganz sicher, dass die Kugel nur unter der mittleren Streichholzschachtel sein könnte! Die hundert Euro waren also ein einwandfreies Investment – 100% Rendite-Erwartung. Erstaunlicherweise war die Kugel nicht dort, wo sie nach meinen mathematischen Berechnungen hätte sein müssen.
Hütchenspiel als Lebensschule
In Schmach und Scham badend übte ich einige Nächte lang mit einer Kugel aus Alufolie diese ungesehen unter eine beliebige der drei Streichholzschachteln zu platzieren. Mit Pokerface. Es ist gar nicht so schwer. Ich könnte mich jetzt auch an den Straßenrand hocken, mich Alejandro nennen und mit osteuropäischem Akzent rufen: „Wo ist Kugel? Dein hundert Euro, wo ist Kugel, Chef?“ Ein paar Komparsen, die scheinbar gewinnen, braucht es natürlich noch, um das Theater perfekt zu machen.
Marry the Night – adopt your Dad
Der menschlichen Größe meiner Tochter ist zu verdanken, dass sie meinem Geschenk mehr Aufmerksamkeit spendierte als dem geplatzten Traum vom Lady-Gaga-Konzert. Sie hatte sich massiv auf die Show gefreut, war ready to Marry the Night. Anstatt mit den Augen zu rollen, dass ihr toller Vater sich mal wieder hat reinlegen lassen, bedauerte sie meinen Verlust – und ich versprach ihr, beim nächsten Konzert der Glamourkönigin sofort ein Ticket zu kaufen. Ein echtes.
Appetit auf Sühne
Einen Tag später: Nach einer Probe für eine gemeinsame Show suche ich mit meinem Bühnenpartner1 in Niederschöneweide ein Restaurant. Das einzige Lokal in der Nähe ist ein Pizzaliefer-Imbiss mit ein paar klebrigen Tischen zur Bewirtung. Es gibt nur italienische Küche, Pizza und Pasta, aber das Herkunftsland der Jungs hinterm Tresen ist garantiert weiter weg als Niederschöneweide von Napoli.
Dolce Vita mit Sprengsatz
Der durchschnittliche kulinarische Italientourist würde wohl angesichts dieser Herrschaften eher an den Dschihad als an Dolce Vita denken. Pizza Palästina. Fatwa-Farfalle. Al Qaida statt Al Forno, Allahu Akbar statt Arrabiata. Scaloppine a la Scharia. Wir holten uns zwei Dosen Cola aus dem Kühlschrank und harrten unserer islamisierten Nudeln. Ich zahlte mit dem Handy. Rasch verschwanden wir nach dem Abendmahl in unchristlicher Atmosphäre.
Das Karma lacht
Zuhause angekommen, fragte ich mich: Wo ist denn meine Tasche mit dem teuren Macbook Pro, den handschriftlichen Aufzeichnungen der letzten Wochen, den mit Feder komponierten Melodien – und meinem Portemonnaie mit etlichen grünen Scheinen?
Donald Duck im Heiligen Land
Die paar hundert Euro fürs Betrugsticket waren also nur der Anfang einer Verlustserie. Ich musste an den ewigen Pechvogel Donald Duck denken. Was bin ich für ein Idiot. Born this way. Der Inhalt meiner Tasche finanziert jetzt die Weiterbewaffnung der Hamas, war ich sicher. Die ultimative Niederlage. Meine gedemütigte Seele kann sich noch nicht einmal zu einem trauernden Dance in the Dark aufraffen.
Am Abgrund der Arrabiata
Außer uns war schließlich nur das Personal im Laden – ohne jeden Bezug zu mir, zu uns. Keine Paparazzi, die bemerkt haben könnten, wie sich die Spaghetti-Salafisten meine Tasche unter den Nagel gerissen haben. Ohne irgendeinen anderen Gast, der Zeuge meiner Vergesslichkeit und Bürge des Anstands hätte sein können. Nur Fremde. Niedriglohnsklaven, die im Kielwasser der allgemeinen Pizzasucht auf der Bella-Italia-Welle mitschwimmen. Halbseidene Überlebende am unteren Rand der Gastronomie. Ohne Stil. Ohne Aura.
Showdown im Pizza-Emirat
Ich mache mich sofort auf den Rückweg zu den Mozzarellamohammedanern. Und da sind sie, die Fettucine-Fälscher. Verrichten ihr Tagwerk, als wäre nichts gewesen. Da strahlt mir einer der Carbonara-Kalifen direkt ins Gesicht. Auch noch verhöhnen wollen sie mich, diese Bolognese-Beduinen! Jetzt hält der Dieb mit demütigendem Lächeln meine Tasche2 hoch und reicht sie mir über den Tresen. „Hier, alles noch drin!“
Mille Grazie, Habibis!
Ich greife nach ihr und sehe sofort – MacBook, Noten, Portemonnaie, alles da. Ich bedanke mich mit einer Theatralik, die selbst Lady Gaga blass aussehen ließe, rufe ein „Mille Grazie, Habibis!“ und stolpere hinaus. Draußen friert die Erkenntnis in der Novemberluft: Nicht jeder, der Pasta verkauft, ist ein Betrüger – und nicht jeder, der PayPal hat, ein Heiliger. Bad Romance, aber mit Happy End.
Liste neu erfundener Wörter im 215. Sonntagskind:
Glamourkönigin, Pizza Palästina, Fatwa-Farfalle, Scaloppine alla Scharia, Betrugsticket, Spaghetti-Salafisten, Niedriglohnsklaven, Mozzarellamohammedaner, Fettucine-Fälscher, Carbonara-Kalif, Bolognese-Beduinen.
Aus der Kajüte der Erkenntnis:
I. Achtung ist die einzige Währung, die nie gefälscht werden kann.
II. Nur wer irrt, kann weise werden.
III. Wer sich über andere erhebt, verliert den Überblickt.
PS: Wem dieser Ausflug in Gut & Schlecht nicht zuviel des Guten war, geht am 14. oder 16. November in Berlins Theaterdiscounter zu Survival of the friendliest: Ein 60-minütiger Soloflug mit der Schauspielerin Therese Lösch über das Gute im Menschen. Jedem Anfang wohnt ein Happy End inne! Tickets: Klick aufs Bild.
Empfehlung der Woche:
Als Substack-Autor muss man sich zwei Kategorien zuordnen. Ich habe mich für Philosophie entschieden – und Humor. Zwar habe ich noch nicht einmal Abitur, aber Liebe zur Weisheit. Denn das ist Philosophie, klärt
Der mysteriöse Unterton hat einen Grund: Gelüftet wird das Geheimnis in Kürze!
Zahlende Abonnierende genießen freien Zugang zum Gesamtarchiv. Auch zu Kolumne 202, die jener, beinah gestohlenen Tasche gewidmet ist:
Die Rache der Lacklederhandtasche
Neulich fand ich in einem Secondhandshop eine sehr aufregende Lacklederhandtasche. Genau das richtige Teil für Annabella, rief mein innerer Geschenke-Admiral. Annabella (Name v. d. Red. geändert) fand die sexy Handbag allerdings längst nicht so scharf, wie ich dachte – und wies sie zurück.









Lieber Mark –
deine Worte haben mich wirklich berührt. Ein Lob von dir wiegt doppelt,
weil du weißt, wie viel Musik in Gedanken steckt. 🌻✨