Verehrte Tausendschaft meiner Sonntagskind-Leserinnen und -Leser,
wenn ich anfange, über die Bahn zu schimpfen, haut mir immer eine innere Stimme auf die Finger: woanders sind Krieg und Hunger, hab dich nicht so. Außerdem ist Rummeckern nicht gerade originell – und der allgemeine Schlechte-Laune-Pegel steigt. Also versuche ich einen Kunstgriff, schließlich habe ich mich der freundlichen Weltbetrachtung für den Frühstückstisch verschrieben. Die Lage ist nicht hoffnungslos.
Ich danke, dass ich jede Woche auf diese Weise bei Euch sein darf und freue mich über Eure Mails. Dass Einige von Euch den PayPal-Button nutzen und mir Geld zukommen lassen, gibt mir ein ganz hervorragendes Gefühl. Ich freue mich über jeden Euro. Nun aber: habt eine herrliche Woche und viel Freude mit Gute Miene zur bösen Schiene.
Streitbare These: Hinter einem angstverzerrten Reisenden steht immer ein Untoter in Uniform.
Spontan aus der Bahn
„Einige von Ihnen müssen den Zug verlassen. Wir sind überfüllt, wir können so die Fahrt nicht fortsetzen. Bitte steigen Sie aus.“ Ich quetsche mich mit ein paar anderen Sommergästen unseres beliebten Reiseunternehmens vor einer Toilettentür mit „Defekt“-Schild herum. Die sizilianische Eisenbahnhitze drängt mir die Frage auf, was für ein mafiöses Unternehmen eigentlich mehr Tickets verkauft, als es Plätze hat?
Wir kennen die Antwort – die freundliche Aktiengesellschaft richtet neuerdings auch soziale Experimente aus: geben ein paar Klügere nach oder zwingt kollektiver Trotz das ICE-Team und über tausend Fahrgäste in die Geduldsprobe? Die Statuten des großzügigen Fuhrunternehmens gestatten eine Auslastung von 200% – erst, wenn einer mehr steht als sitzt, gilt das Verhältnis als so ungünstig, dass die Fahrgäste zwischen Hamburg und Berlin „Reise nach Jerusalem“1 spielen müssen. Mir fehlt der Wille zum Rechtbehalten, ich steig aus.
Ein Gedicht – was sich als Nerd gehört
Dabei liebe ich die Bahn. Ich wohne in Berlin mit Blick auf die Gleise, gegenüber fährt jeden Abend um 18.40 der Nachtzug nach Wien ab, dann liegt Reiseromantik in der Luft. Nur ein paar andere Zufälle in meinem Leben, und ich wäre einer dieser von Eisenbahnern „Pufferküsser” genannten Nerds geworden, die Zugfahrpläne auswendig kennen und den ICE-Typ am Bremsgeräusch erkennen.
Ode an die Eisenbahn
Wenn ich bei den Zügen steh, über Gleise in die Ferne seh und der Duft von Staub und Eisen lullt mich ein. Dann weiß ich, hier wo Weg und Hin sich treffen, find ich Lebenssinn. Auch wenn ich reisend untergeh, du sollst mein Zuhause sein.
Postkarte für Eisenbahnromantiker.
Trotz Stimmungstief ein Liebesbrief
Aber, liebe Bahn, die ich so gerne hab, wir müssen reden. Wisst ihr, diese unbegrenzten Ticketverkäufe holen das Schlechteste aus uns Menschen raus. Es ist wie bei Konzerten mit freier Platzwahl. Alle wollen vorne sitzen. Dann drängelt man sich schon zwei Stunden vor Einlass vor der Tür. Da hat man Zeit, darüber nachzudenken, dass Darwin doch recht hatte und Kant ein Traumtänzer war.2
Blick aus dem Fenster – aus etwas Distanz ist die Bahn einfach zum Verlieben.
Wer jeden Tag 40.000 Züge an knapp 6.000 Bahnhöfen managt, braucht doch Hochspannung in seinen Oberleitungen. Wo kommt der Kriechstrom her?
Vor kurzem sprach eine Zugbegleiterin die Wahrheit: die Verspätung lag nicht „an der verspäteten Bereitstellung des Zuges“ oder „an einer Verspätung aus vorheriger Fahrt“, sondern daran, dass sich kein Triebzugführer3 finden ließ, der heute Bock auf Lok hatte – der helle Bahnsinn. Aber weißt du was? So eine Offenheit macht dich menschlich! Sofort hat man Verständnis und möchte die Schaffnerin und ihr Team im Bord-Bistro auf ein Gläschen Rotkäppchen Halbtrocken einladen.
Im Umspannwerk der Sprachgewalt
Wenn aber eine so wichtige Information wie der Ausfall des ICE nach Bremen vom emotionsbefreiten Sprechautomaten verkündet wird und die dazugehörige Nachricht untergeht, dass stattdessen ein Ersatzzug zur selben Zeit auf einem anderen Gleis fährt, möchte man glauben, dass herzlose Bürokraten bei euch die Weichen der Kommunikation stellen. Und wenn es nach einer nicht von Erklärung begleiteten Ansage über einen Zugausfall heißt: „We apologize for any inconvinience“, dann ist das zynisch und eine hartnäckige Schranke sinkt zwischen uns nieder, liebe Bahn. Sprecht mit uns, fertigt uns nicht ab.
Der toughe Schaffner
Zur Zeit, das kann ich nicht anders sagen, bin ich enttäuscht. Ich glaube, ich brauche erstmal ein bisschen Abstand. Bei Check24 gibt es immer wieder mal günstige Mietwagen. Ich habe in der Zeitung von einer Schulklasse gelesen, die von Duisburg zurück nach Berlin wollte.4 32 Jugendliche nebst Lehrerin am Bahnhof, der gebuchte Zug, ein DB-fremder „Flixtrain“ kam nicht. Er fuhr von einem anderen Gleis ab, das stand aber nirgendwo und wurde noch nicht mal vom Automaten durchgegeben. Also stieg die ganze Bande in den nächsten ICE nach Berlin. Dort gab es Ärger. Uniformen führen wohl manchmal zu einem militärischen Selbstverständnis: der Zugbegleiter focht den gnadenlosen Kampf des unnachgiebigen Gleisgenerals. Dass ein Bahn-Fehler der Grund für das Schlamassel war, hielt er nur für eine Signalstörung im kollektiven kriminellen Passagierbewusstsein, das sich hier einer multiplen Beförderungserschleichung schuldig machte. Der Feldherr mit der Fahrkartenzange tippte die Fahrpreisnacherhebungsdaten in seinen Taschenrechner und nannte den Preis: 9.000 Euro, zahlbar sofort. Das gab die Reisekasse nicht her. Der Eisenbahner griff zum letzten Mittel und rief die Polizei, die am Zielbahnhof die Personalien der Kriminellen aufnahm.
Aus Mitgefühl für die gedemütigte Schulklasse habe ich ein Gedicht geschrieben. Es lässt sich gut gemeinsam sprechen und schafft Durchzug in der Seele, damit die schlechten Gefühle vom Abstellgleis kommen:
Wer torpediert den Abfahrtsplan? Nicht Terroristen, nein, die Bahn! Wer spinnt das dickste Seemannsgarn? Nicht Käpt’n Blaubär, nein, die Bahn! Wer hat die Macht eines Gangster-Clan? Nicht nur Abou Chaker, nein, auch die Bahn! Wo lenkt und führt der Schlendrian? Nicht bei Hempels unterm Sofa, aber in der Bahn! Wer definiert das Wort „human“? Nicht Kant, nicht Darwin, nein, die Bahn!
Bitte ausdrucken und an die Kühlschranktür heften.
Dieses Gedicht ist Open-Source-Kunst: Ihr seid herzlich eingeladen, weitere Zeilen hinzuzudichten. Am besten gleich hier:
Jetzt wünsche ich einen schönen, reisefreien Sonntag. Und winkt bitte, wenn Ihr mit einer verspäteten Eisenbahn durch den Bahnhof Berlin-Charlottenburg fahrt. Ich lege ein Kissen auf die Fensterbank und schaue verträumt auf die Züge.
Reise nach Jerusalem: Artikel in der Taz.
Ich als Schulabbrecher weiß, wie es sich anfühlt, von der Bildungselite belächelt zu werden. Wenn ich dann doch mal etwas weiß, muss ich es gleich raushängen lassen. Wer bei Kant und Darwin nur Bahnhof versteht: hier die Thesen der beiden einflussreichen Denker in einfacher Sprache:
Darwin: Arten und Individuen stehen in Konkurrenz zueinander und kämpfen um Nahrung und Lebensraum. Diesen Wettbewerb bezeichnete Darwin als „struggle for life“. Nur die Harten kommen in den Garten.
Kant: „Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem anderen zu.“
Der Frauenanteil unter Lokführern beträgt 4,8%.
Hier der Artikel in der Waz.
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Wie immer super, Herr Scheibe!
Leider so aus dem Leben gegriffen!
Die Reservierungspflicht (in Italien klappt das wunderbar) würde aber nur einen Teil der Probleme lösen...
Mit den Stellwerken, Gleisen, alten (und zu wenigen) Zügen und zu wenig Personal wird das nichts mit der Verkehrswende...