In der Eisenbahn. Hatte mich auf das Chili sin Carne aus dem Speisewagen gefreut, aber das Bordbistro hat aus technischen Gründen geschlossen. Jetzt mache ich mentales Window-Shopping, um meines Hungers Herr zu werden: Ich halluziniere in Erinnerungen an Orgien des Schlemmens in meiner Kindheit.
Meine Oma stand um halb sieben schon in der Küche, um den Braten vorzubereiten. Um 12 Uhr kam die Familie zum Essen, Oma tischte auf: Ente aus dem Backofen, selbstgemachte Kartoffelklöße, Gemüse aus dem eigenen Garten. Mit einem Nachtisch aus eingemachten Birnen, die sie selbst mit einer langen Bambusstange vom riesigen Baum gepflückt hatte.
Wenn sie servierte, litt sie: „Ist doch bestimmt wieder nichts geworden“ – klagte sie und schüttelte den Kopf, „die Klöße zu wässrig, die Ente zu kross, ach, ach. Der Rotkohl ist doch ganz labbrig, das will man doch nicht essen…“ In Wirklichkeit war alles köstlich. Heute würde ich ihr an Ort und Stelle eine Verherrlichungshymne komponieren und vor ihrem Braten auf die Knie fallen, obwohl ich Vegetarier bin! Damals, als Kind, war es ganz normal, sich die Klage anzuhören, so zu tun als wäre nichts, und sich das Kunstwerk schamlos reinzuspachteln.
Hab’ ich einen Hunger, vielleicht haben die ja noch eine Tüte Chips an Bord? Ich muss an etwas anderes denken!
Heute bekam ich ein verspätetes Geburtstagsgeschenk: Olga kam vorbei und übergab mir ein Päckchen, für dessen ungelenke Verpackung sie um Entschuldigung bat. Wenn es mir nicht gefiele, könne ich es zurückgeben, begleitete sie mein freudiges Entpacken der wunderschönen brillihaft glitzernden Manschettenknöpfe. Für deren Einfallslosigkeit schämte Olga sich und gab mir auch noch ein originelles gepunktetes Einstecktuch dazu. Mit dem hat sie in ihren Augen den Tiefpunkt ihrer persönlichen Geschmacklosigkeit untertroffen. Sie sprach von ihren tollen Geschenken, als hätte sie einen Kübel Sondermüll auf meinem Tisch ausgeleert.
Warum erniedrigen sich Frauen so unnötigerweise? Wenn wir Jungs eine Tütensuppe aufkochen, bewerben wir uns gleich bei „The Taste“. Wenn einer von uns es schafft, die Folie von der Fertigpizza abzuziehen, bevor das Ding in den Ofen kommt, nimmt er einen Kredit auf, um ein Sternerestaurant zu eröffnen.
Und mit Blumen von der Tanke fühlen wir uns als Schenker mindestens so professionell wie der Weihnachtsmann.
Wer immer meiner Oma, Olga und all den anderen Frauen ins Poesie-Album geschrieben hat, dass sie sich gefälligst nicht so wichtig nehmen sollen, hat großen Schaden angerichtet. „Sei wie das Veilchen im Moose, sittsam, bescheiden und rein. Nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein.“ – Was für eine Gemeinheit!
Während mein Mitgefühl für alle Frauen wächst, denen man in der Kindheit auf die Finger gehauen hat, schwillt mit meinem mittlerweile ins Kannibalische eskalierenden Heißhunger die Tötungslust gegenüber der DB an – und kennt kein Ziel! Die armen Zugbegleiterinnen haben es nicht verdient, zerfleischt zu werden, sie sind unschuldig. Der seelenlosen automatischen Ansage, die meine Wartezeit in Spandau mit vorgefertigten Ausreden verhöhnte, kann ich nicht den Hals umdrehen – und dank dem miserablen Internet im ICE sind auch keine hasserfüllten E-Mails an den sogenannten Kundenservice drin: „Sei wie die Schnecke im Schleime, langsam, gefräßig und schlapp. Mach nicht auf schnelle Gazelle, das nimmt dir doch eh keiner ab.”
Könnte doch nur der Lokomotivführer vor jedem Halt mit weinerlicher Stimme sagen: „Ach, wir kommen bestimmt nicht pünktlich an, diese Fahrt ist mir einfach nicht gelungen, es tut mir so leid! Dabei wollte ich es heute für Sie besonders schön machen, aber mir gelingt einfach gar nichts! Kann ich Sie vielleicht alle auf eine Pizza einladen?“ – und dann bremst er elegant und sanft zur rechten Zeit am rechten Ort und alles ist perfekt.
Stattdessen sah ich den Anschluss-ICE in Berlin-Spandau am Gleis gegenüber in dem Augenblick Richtung Norden wegrollen, in dem ich verspätet ankam. Freitagabend, Reservierung dahin, meine Fahrt nach Bremen dauert 5 statt 3 Stunden. Niemand übernimmt Verantwortung, die Bahn ist wie der Kanzler: Keiner kann ihn leiden, aber er macht auf stolze Rose und tut so, als wär nichts. Ich frage mal im Kanzleramt, ob es da ein Poesie-Album gibt.
Liebe sehr verehrte, zärtlich wachsende Gemeinschaft,
manchmal ist die Welt ist ein Geschenk an uns. Man muss das Smartphone aus der Hand legen, das Fenster zur Hölle schließen und sich an eine Situation erinnern, in der man in seelischer Topform war, das hat mir mal eine Psychotherapeutin beigebracht. Dann stellt man sich diese Situation mit allen Sinnen vor: was habe ich gesehen, wie hörte sich das an, wie war das Körpergefühl, roch es nach Braten? Ist das mentale Moodboard fertig, packt man es im Geiste in eine Art Wolke, greift sie sich und zieht sie wie ein riesiges Kondom vom Kopf bis zu den Füßen über sich. Habe ich gemacht neulich, um zu einem Salonkonzert in der Nachbarschaft zu gehen. Seelisch gerüstet wie ein mit Blumen geschmückter Panzer schlenderte ich an den beiden Dealern vorbei, die mir für das Blau meines Anzugs Komplimente machten und ging ins Foyer des Klick-Kino in der Charlottenburger Windscheidstraße. Die Tür stand offen, die Melodie von Charlie Chaplins „Eternally” ließ meine Schutzhülle platzen und flutete mich mit Glück: eine Pianistin rhapsodierte über die Klaviatur, eine Geigerin in Garderobe der 1920er girlandierte anschmiegsame Linien um die Melodie, die ein lyrischer Tenor mit großstädtischer Hingabe in den Raum warf. Im Zuge des offenen, gastfreundlichen Abends erlebte ich leichtgängige internationale Begegnungen, als wäre Berlin die kommunikative Weltstadt, die sie immer zu sein behauptet. Das ist das Werk von Heidemarie Wiesner, die mit ihrem Team regelmäßig Konzerte an verschiedenen Berliner Orten auf die Bühne bringt. Schaut selbst! Zu den Eigenarten dieser Oase im hauptstädtischen Kulturbetrieb gehört, dass sie sich dem gewöhnlichen Wettbewerb entzieht. Wer wissen will, wann und wo der Art-Salon stattfindet, trägt sich hier in die Liste ein.
Ich wünsche Euch einen herrlichen Sonntag,
Euer Mark
PS: Sollte das Fenster zur Hölle noch offen sein, schaut, lasst Euch von meinem Song „Ich schmeiß mein Handy weg” inspirieren:
Ein Sonntagskindabo ersetzt das Poesiealbum: jeden Sonntag schön gestaltete Frühstücksliteratur per Mail!
Gefällt dir dieser Text und willst du auch morgen noch Sonntagskind? Empfiehl ihn. Danke!
Wer mag, spendet:
Was erlebst du mit der Bahn?
dieses Chilli con carne wurde uns auch im Bordbistro des ICE von Köln nach Bremen angepriesen, und das bordbistro war jedoch ausser Betrieb......Gottseidank hatte ich vom vorherigen Büffet in der Eifel drei, vier Canapees vorausschauend eingepackt.
Moin Mark, du hast meinen Sonntag heute wieder bereichert. Die Bahn schafft es wirklich, dass selbst tolerante Vielfahrerinnen langsam oder auch schnell, die Geduld ausgeht. Eigentlich wollte ich heute von Travemünde zurück nach Bremen, doch zwischen Lübeck und Hamburg gibt es am Wochenende schienenersatzverkehr - auch so ein Wort, dass es eigentlich nicht geben sollte. Das tue ich mir nicht an.. sommerwochenende und schienenersatzverkehr. Da können aus geplanten dann schon 3 Stunden nach Bremen gern mal 5 oder mehr werden. Das ganze in vollen Bussen und warten in Ahrensburg, auch nicht gerade der Weltstadtbahnhof. Dann lieber noch ein Tag länger im maritim und vom Bett aus die Lübecker Bucht beobachten und hoffen, dass die Baustelle wirklich morgen fertig ist.
Schönen Sonntag und Gruß Ute