Neulich klingelt das Telephon. Mein Freund, der berühmte Schrifsteller Peter Prange, ist dran und erzählt:
„Alle Welt war verrückt nach dem berühmten Pflaumenkuchen meiner Oma. Ihr Leben lang hat sie das Rezept nicht rausgerückt. Auf dem Sterbebett blitzten ihre Augen noch einmal auf und sie sagte im Kreise ihrer Liebsten: ‚Also gut, hier ist das Rezept:‘ – Die Verwandtschaft hielt die Luft an, Notizbücher wurden aufgeschlagen, um das komplexe Geheimnis der Köstlichkeit für alle Ewigkeit niederzuschreiben. Dann offenbarte die Großmutter das Mysterium ihrer Signature-Backware. Keine karamelisierten Himalayanüsse, kein obskures Gewürz aus dem Orient machte Omas Kuchen so unwiderstehlich – sondern die Psychologie der Verknappung, ihr Rezept: ‚Immer ein bisschen zu wenig.‘“
Die Monsterschritte der Nachtigall
Ich höre natürlich schon der Nachtigall Monsterschritte, während der große Geschichtenerzähler mit seiner scheinbar harmlosen Anekdote die Rampe für Kritik baut: Der promovierte Philosoph und Romanist ruft an, weil er findet, ich überlade meine Texte.
Zum Beispiel die letzte Kolumne – da wäre diese rührende Geschichte mit dem randalierenden Junkie in der S-Bahn. Und – als würde das nicht reichen – setze ich noch eine zweite hintendran: Die Schauspielerin, die mir während einer Probe vorschlägt, dass ich mal googeln soll, wer sie ist. Und um das haltlose Durcheinander vollends mit dem Puderzucker der Wirkungslosigkeit zu zerstauben, muss ich auch noch einen KI-generierten Song an die eigentlich tolle Story packen. Das ist zu viel. Wie ein Stück klitschig-klebriger Sahnetorte.
Hüttenpredigt im Prunkpalast?
Kommen von einem so erfahrenen Schriftsteller Ratschläge, spitze ich die Ohren. Peter hat mich mit seinen Büchern schon so oft zum Weinen gebracht hat. Und dazu, dass ich dachte: „Ich ändere mein Leben! Sofort!“
Andererseits: Ob einer, der einem Millionenpublikum in 15 armdicken Romanen die Geschichte Europas und Deutschlands erzählt, der Richtige ist, um mir das trockene Gebäck „Weniger ist mehr“ zu verkaufen?
Pflaumenkuchen der Weisheit
Aber ich lasse den Zweifel beiseite und versuche, diese Kolumne nach dem Pflaumenkuchenrezept der Weisheit zu backen. Heute nur eine Geschichte, nur ein Thema, keine unnötige Gelatine. Also gut, Meister. Was war noch gleich das Thema?
BWL? WTF!
Ach ja, Peter Pranges turbokapitalistische Großmutter, die ihre Verwandtschaft pâtissierisch unterversorgt, um die Nachfrage zu pushen. Mir als Verschwender fällt so etwas schwer. Mein Maß fängt jenseits des Messbechers an – und hört erst da auf, wo mich der Appetit verlässt. Nicht die beste Voraussetzung, um Erkenntnisse aus der Betriebswirtschaft auf meine sogenannte Arbeit zu übertragen. „BWL? WTF!“ – heißt es auf der Chefetage meiner inneren Konditor-Innung.
Free Jazz – ein Stück vom Kuchen der Freiheit
Ich bin in den 70ern und 80ern groß geworden, da galt Ökonomie als kleingeistig. Wir jungen Musiker misstrauten dem System – schließlich buken wir frei am süßen Stollen der Bewusstseinserweiterung herum und lehnten alle Regeln ab. Wir favorisierten das sweete Aroma des schnellen Rausches und schätzten das Mehl der Disziplin so gering wie der Radhamster die Freiheit. Das geflügelte Wort der Bremer Free-Jazz-Szene war ein in Marzipan gemeißeltes Statement: „Wer übt, kann nichts.“
Excel, Drugs & Rock’n Roll
Der Satz kann nicht ganz falsch sein: Immerhin habe ich als Abiturverweigerer es zum Hochschuldozenten gebracht: Studierende der legendären Schauspielschmiede „Ernst Busch“ unterrichtete ich in Liedinterpretation und Songwriting. Wie ich es geschafft habe, als Tunichtgut an den akademischen Schwellenhütern vorbeizukommen? Nur mit delikater Glasur der Vorschriften!
Das genaue Geheimnis nehme ich allerdings mit ins Grab. Einer der Studenten sagte im Workshop: „Ich will ein Lied schreiben, in dem ich meinen imaginären Sohn frage, was mit ihm nicht stimmt. Er führt ein Spießerleben, anstatt seinen süßen Träumen hinterherzuhechten.”
Gemeinsam erfanden wir den Song des verkifften Hippie-Vaters, der seinen rebellierenden Sohn zur Räson ruft:
Sei kein Hans-Guck-in-die-Exceltabelle,
sei kein traurig strukturierter Realist.
Sonst wirst du noch ein Experte fürs Reelle,
und was ist dann der Lohn?
Ich sage dir, mein Sohn:
du wirst Gefangener einer Schreibtischopferzelle!
Sei kein Hans-Guck-in-die-Exceltabelle.
Eine Tabelle zum Träumen
Solche Ratschläge müsste mir nie jemand geben, in meiner Lebensführung bestand noch nie Tabellengefahr. So hat mich der Meisterautor Peter Prange genau richtig eingeschätzt: Wie viele Möglichkeiten habe ich, den Satz
„Zuviel des Guten ist jetzt aber wirklich mal genug”
zu verstehen?
Immer ein bisschen zu wenig.
AUS DER KAJÜTE DER ERKENNTNIS
I. Die Kunst des Weglassens macht nur Spaß, wenn man alles hat.
II. Übermaß an Gefühl ist besser als Mangel an Geschmack.
III. Wer zu früh aufhört, weiß nicht, was fast zu viel gewesen wäre.
Wer hier zum ersten Mal vorbeischaut: Ich bin Mark Scheibe, ein freundlicher Snob, der mit seinem Steinway-Flügel auf einem Hausboot lebt. Ich gelte als weltweit ignorierter Künstler. Als Opernkomponist und Jazzsänger bin ich ein Geheimtipp. Auch als Schlagertexter, Astrologe und Marathonläufer halte ich mich aus Anstandsgründen dem Glitzerlicht der öffentlichen Bewunderung fern. Mit meiner wöchentlichen Kolumne „Sonntagskind” versuche ich mich vor dem natürlichen Andrang auf mein stetig wachsendes literarisches Oeuvre zu verstecken.
Tu es.
Tu es immer wieder.
Gib mir kitschig- klebrige Sahnetorte.
Sonst nichts.🙏🏻🙏🏻🙏🏻🫶🏻!