Wenn man als Komponist eine Schreibblockade hat, liegt das daran, dass es einem an Not mangelt. Denn erst die Not schafft Notwendigkeit, das schlechte Leben in gute Kunst zu verwandeln. Hin und wieder brauche ich deswegen unangenehme Situationen.
Heute esse ich Mittag in einer Schulkantine. Das verspricht genügend Erschütterungen, um den Komponistenakku wiederaufzuladen.
Brutales Licht, Linoleumboden, Höllenlärm. In einer Schlange mit hundert pubertätskranken Kindern schiebe ich mich Richtung Essensausgabe II. Alle paar Meter eine Lehrkraft mit verschränkten Armen. In beuliger Cordhose und einem verwaschenen Pullunder über dem ungebügelten Hemd demonstriert sie modische Nachsicht mit sich selbst. Sie hat Pausenaufsicht. Ihr Blick sagt: Wachdienst. Mit der Präzision eines Roboters klatscht ein gesichtsvergessener Küchenarbeiter formatierte Nahrung auf die Teller.
Das ist gut. Es komponiert bereits in mir. Ein hungrig bebender Rhythmus pocht sich durchs tiefe Blech, melodische Fragmente purzeln durch den Gesamtklang und verweigern sich dem Zusammenspiel.
Heerscharen von Anoraks schaufeln sich, vornübergebeugt, Pampf in die Leiber. Einen Klumpen Lasagne, einen Haufen zerfetzter Weichnudeln, ein labbriges Geflügelschnitzel.
Durch sämtliche Tonleitern dieser Welt miauen sich ein Dutzend Klarinetten, begleitet von einem dauerhaft grummelnden Paukenwirbel. Eine Bassposaune klebt sich am Grundton fest.
Die Kantine vom „Spiegel” – als heilender Kontrapunkt zur ästhetischen Zumutung der durch meinen Text hervorgerufenen inneren Bilder. Foto: Gregor Julien Straube, creative commons
Unter der Neonröhre von Essensausgabe II bekomme ich mein vegetarisches Reisgericht mit Pilzen. Da, der Lehrertisch. Er ist leicht zu erkennen: eine Wolke aus übler Laune verfinstert darüber die Mittagszeit. Außerdem ist der einzige mit gepolsterten Stühlen.
Vor meinem geistigen Ohr will sich ein Vierklang aus gedämpften Hörnern über ein brüchiges Fagott-Arpeggio ergießen, gnadenlos pocht das Moll deprimierend monotoner Celli.
Wie ein pelziger Vlies liegt der Erstschweiß der Geschlechtsreife in der Luft, befeuchtet von aprikosigem Kinderparfum und Schulhofgangsterdeo. Auf einem schimmelfarbenen Tablett balanciere ich meinen Teller.
Über einem Missklang aus zu tief gestimmten Oboen tänzelt ein Xylophon durch ein Stakkato aus hohen gezupften Geigen, eine Trompete zischt.
Ich schreite an Hakan und Murat vorbei, denen beim Armdrücken gerade ein paar Gläser zu Bruch gegangen sind. Aleyna kommentiert Svenjas neue Plateauschuhe: „Die hat die an, weil sie geil sein will.“ Svenja springt von ihrem Stuhl auf, er fällt krachend um, sie herscht Aleyna an: „Nä! Weil ich geil bin!“ Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sich die beiden zu Boden ringen, Hakan und Murat feuern sie an. Ich setze mich. Die Lehrkraft mit der Cordhose fuchtelt mit den Armen und schimpft das Menschenknäuel auf dem Boden aus.
Wie ein Gruß aus einer besseren Welt himmelt eine honigsüße Flötenmelodie einen dunkel leuchtenden Durakkord an, der sich ganz leise aus dem Streicherensemble hebt, allmählich anschwillt und sich in einer orgiastischen Klangexplosion mit dem Donnerschlag eines Tamtams vereint, das ewig nachklingt.
Nie klang Reis mit Pilzen so köstlich.
Wichtiger Nachtrag: es handelt sich bei diesem Text um eine Überspitzung. Da ich häufig in einer Schulkantine bin, muss ich etwas richtigstellen:
In Wirklichkeit arbeiten hinter dem Tresen keine gesichtsvergessenen Roboter. Es sind Damen und Herren, die trotz der Härte ihres Alltags um Freundlichkeit bemüht sind. Das ringt mir Respekt ab. Auch sind nicht alle, die dort zur Schule gehen, mit Keilereien und Beleidigungen beschäftigt. Am Lehrertisch wird manchmal gelacht.
Trotzdem ist die Schulkantine mit ihrem Krach und ihrer funktionalen Kälte alles andere als ein Sehnsuchtsort. Deswegen hat sie Humorpotenzial und dient mir als Vorlage für eine hoffentlich unterhaltende Kolumne. Die Darstellung der Kantine als soziale Hölle ist genauso übertrieben wie die romantisierten Musikbeschreibungen eines snobistischen Komponisten, der in dem Krach Harmonie findet.
Ich wollte mit meinem Text „Inspiration durch Essensausgabe II“ niemandes Gefühle verletzen und bitte um Verzeihung, sollte das geschehen sein.
P.S.: Zu welchen ganz realen orchestralen Ergebnissen die regelmäßige Kantinenerfahrung führt, zeigt der Film über die „Melodie des Lebens”, mein symphonisches Projekt mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen und Schüler*innen der Gesamtschule Bremen Ost.
Diese Worte erwärmen das Herz einer Grundschullehrerin mit dem Fach Musik auf eine süßlich-sarkastische Weise, der Nachhall des Schmunzelns während des Lesens noch immer im Gemüt.