Wie hat es das Wort „normal“ eigentlich geschafft, so ein Top-Image zu bekommen? „Normal“ sagt man, und meint damit „richtig“. Mir ist das gar nicht recht. Normal ist das Format des Standardbriefs und der Achterdübel im Baumarkt, auch das Dreiviertelzollgewinde, an das ich die Spülmaschine anschließe. Zum Glück besteht nicht jeder Spülmaschinenanschluss, jede Schraube, jeder Bohreraufsatz auf Individualität. Die vereinigten Bauteile, Büroartikel und anderen Güter der funktionalen Welt unterwerfen sich so selbstlos der Norm, wie es selbstverständlich für die Zeit ist, im Uhrzeigersinn zu vergehen. Irgendwann muss jemand aber die perverse Lust bekommen haben, die Ordnungsprinzipien von Schrauben, Postwertzeichen und Leitplanken auf den Menschen zu übertragen. Das Wissen, ob jemand einen 1a-Charakter hat oder nur eine B-Seele, hilft bei der Orientierung.
Meine Mama wird Zeit ihres Lebens von Verehrern umgarnt. Frau Schäfer aus dem Erdgeschoss passte es nicht, dass ständig aufgekratzte Herren mit Blumensträußen im Treppenhaus an ihrer Tür vorbeigingen, wo nie jemand klingelte. „Das ist doch nicht normal, so viele Männer!” rief Frau Schäfer eines Nachts durchs Treppenhaus. Ein paar Tage später, das war in den 1970er Jahren, standen Damen vom Gesundheitsamt vor der Tür. Damals gab es den Terminus der HWG-Person. Das war die diskriminierende Etikettierung von Menschen mit häufig wechselnden Geschlechtspartnern. Für eine Abweichung von der DIN-Norm sexuellen Umgangs haben sich damals Behörden interessiert.
Die gewalttätige Verherrlichung des Normalen hat mich schon als Kind gestresst. Normal war, Sonntagnachmittag zur Verwandtschaft mitgenommen zu werden und sich zu langweilen, wenn sich die Erwachsenen an der Normalität ihrer Gedanken erfreuten: Bausparverträge einlösen, Doppelhaushälfte kaufen, mit der Familie darin ein normales Leben führen.
In der Doppelhaushälfte meiner Tante gab es einen Fransenkamm, mit dem sie die Zotteln des Wohnzimmerteppichs geradegezogen hat. „Das ist ganz normal” rief sie mir aus der Hocke zu und schaute mich, den kleinen staunenden Jungen dabei an, mit Wahn im Blick.
Wie anders war es bei Famile K., Freunden von uns. Aus einer Sektlaune heraus haben sie die Schatten an der Wand nachgemalt, die von den Yuccapalmen und Gummibäumen auf die Tapete geworfen wurden. Im Flur hing ein Geldspielautomat, den irgendwann mal jemand mitgebracht hatte. Ein Klavier stand im Wohnzimmer, auch eine Geige, eine Posaune, ein paar Trommeln. Niemand konnte richtig darauf spielen, trotzdem wurde bei Familie K. immer Musik gemacht, das war da ganz normal. Nachbarn waren anderer Meinung.
Normal war für mich, einmal im Jahr umzuziehen. Ich glaube, dass es für meine Mama ein Riesenstress war. Sie hat mir aber immer das Gefühl gegeben, wir gingen auf Abenteuerreise, wenn mal wieder der Möbelwagen vor der Tür stand.
Der 14-Jährige Hamza hat sich in die gleichaltrige Mitschülerin Elif (die Namen habe ich mir alle ausgedacht) verliebt, eine orientalische Schönheit mit vielen Instafollowern. Als das losging, hat er mir erzählt, wie geil er sie findet, er war ganz beflügelt von dem irren Gefühl und sprudelte vor Charme und Seligkeit, er schwärmte von Elif, dass sie ihn zum Lachen bringt und er sich einfach gut fühlt, wenn sie in der Nähe ist, dass sie unfassbar heiß ist und er in ihrer Gegenwart rot wird, weil es so kribbelt überall.
Ein paar Monate später frage ich ihn, wie es läuft mit seiner Prinzessin. Es passt ihm nicht, dass sie abends alleine auf die Straße geht, meint er. Zu gefährlich. Dann hat er sich für seine Verhältnisse ganz normal verhalten und es ihr verboten. Als sie ihm gesagt hat, dass sie sich von ihm nichts vorschreiben lässt, hat er sich zurückgezogen. „Sie ist eine Schlampe“, stellt er fest. „Aber nicht mehr für dich, armer Hamza“ denke ich. Leider normal.
Normal ist, was wir als Kinder kennenlernen. Hamid, Mustafa und Murat sind Schüler, mit denen ich Musik mache. Ich frage sie, wovon sie träumen. „Frieden” sagt Hamid, dessen Eltern im Libanon geboren sind. Ich frage, was Frieden ganz konkret für ihn bedeutet. „Die Juden sollen aufhören, unsere Kinder umzubringen”, sagt er, und „Weiß doch jeder, dass die uns alle töten wollen.” Ganz normal.
Ich komme mit Andi ins Gespräch. Er arbeitet als Fahrer für eine karitative Organisation, die Bedürftige mit Möbeln versorgt. Er sagt, die meisten sind nette Leute, nur die Syrer meckern immer rum. Und außerdem sind die eigentlich reich und nutzen unseren Staat aus. Nein, das hat er nicht gesagt. Seine Worte waren: Sie kriegen Zucker in den Arsch geblasen, während unsereins schuften muss. Ganz normal.
Auf der anderen Seite des Atlantiks schmiedet gerade ein durchgeknallter Bösewicht im Namen des Volkes aus einer Bande aus Holocaustleugnern, Axtwerfern und mutmaßlichen Sexualstraftätern die Führungselite der USA. Vor hundert Jahren gruselte sich die Weltgesellschaft vor dem diabolischen Manipulationsgenie Dr. Mabuse. Der verstand es, die Börsen zu beeinflussen, lenkte Millionäre zu seinen Gunsten und ließ die Massen seine phantastischen Lügen glauben. Trump ist der Dr. Mabuse Zwei Punkt Null, mit seinem Horrorkabinett macht er die Grenze zwischen Inszenierung und Realität unsichtbar.
Verehrte Leserin, lieber Leser, herzlich willkommen zum 166. Sonntagskind, heute aus einem Hotel in Tübingen. Vorgestern habe ich mit Dutzenden Jugendlichen und meinen Freunden von der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen die 27. Melodie des Lebens auf die Bühne gebracht. Das war mal wieder eine Zelebration der Vielfalt des Lebens. Das Fernsehen war da, hier ein Beitrag:
Ich wünsche Euch einen hervorragenden Sonntag – bis nächste Woche,
Euer Mark
Echt wunderbar geschrieben, sollte normal in der Zeitung sein so zu schreiben. Genau das richtige für einen ganz normalen Sonntag, beruhigend beinahe, hoffen wir mal das das nicht normal wird.