Die Natur ist manchmal eine ästhetische Zumutung.
Liebe Lesende, Freundinnen und Freunde,
ich hatte vor ein paar Tagen eine besonders schöne Begegnung. Darüber wollte ich schreiben. Ich musste feststellen, dass es mir nicht gelingt, das Erlebte so in Worte zu fassen, dass ich es euch als Frühstücksliteratur von gewohnter Qualität anbieten kann. Also begann ich, es ins Groteske zu treiben, bis es ein Kunstwerk wird.
Diese verdammten Paparazzi!
Beim morgendlichen Laufen durch den französischen Alpenwald dachte ich gerade darüber nach, was ein Kunstwerk überhaupt ist. Ich glaube, es hat etwas mit Verbindung und Verwandlung zu tun. Die Verbindung allein reicht nicht – sie wäre nur Addition, mathematisch. (Lies das, Mathelehrerin meiner Oberstufenzeit, die Du mir 0 Punkte ins Zeugnis geschrieben hast!) Kunst braucht Multiplikation!
Der DJ, der ein Hildegard-Knef-Chanson nimmt und einen Beat darunterlegt, betreibt Addition – nette Sache, aber keine Kunst, jetzt wissen wir es endlich! Der Maler Gerhard Richter1 hat in den 60er Jahren unscharfe Photos abgemalt. Dabei hat er Techniken und Mängel der Photographie auf die Ebene der Malerei übertragen. Ich würde sagen: Multiplikation – klarer Fall von Kunst.
Wer anderer Meinung ist, kann hier gerne einen Kommentar hinterlassen. Dann haben wir hier ein Gespräch über Kunst, das wär’ doch toll!
„In Kunstwerken stecken mehr Fakten und Details als in Geschichtsbüchern.“
(Charlie Chaplin)
Nun aber Schluss mit dem Generde! Viel Spaß beim Lesen (Fußnoten bitte immer zuletzt lesen) der 113. Sonntagskind-Kolumne: Kein Gangstarap in Weil am Rhein
Ignorierter Künstler von Weltrang
Meine Therapeutin wird noch eine Menge Arbeit mit mir haben. Warum hat sie es immer noch nicht geschafft, aus mir einen ausgeglichenen, reifen Mann in den besten Jahren zu machen? Ich schlage mich mit infantilen Persönlichkeitsmängeln herum, suche zum Beispiel immer die Schuld bei anderen. Wahrscheinlich ist meine Therapeutin einfach nicht gut genug.
Mit enttäuschten Mundwinkeln laufe ich durch die Stadt und trage angewidert einen Seidenschal. Ein Seidenschal ist der internationale Textilpass ignorierter Künstler2 von Weltrang. Mir ist alles viel zu viel und ich kriege trotzdem nie genug.
Jedesmal, wenn ich am Bahnhof an dem Stand der Zeugen Jehovas vorbeigehe, denke ich: irgendwann machen wir mal was zusammen! Hier habe ich eine Ausgabe des „Wachtturm” von 1931 als Vorlage meines Sonntagskind-Cover entführt. (Nur Addition, Anmerkung d. Red.)
Meinen Seidenschal habe ich dem Pfarrer geschenkt. Im Gegenzug hat er mich von allen Sünden freigesprochen. Nochmal Glück gehabt!
Das Psychogleis bei Enterprise
„Ist Ihre Mietwagenbuchung privat oder geschäftlich?“ fragt mich der nette Mann bei Enterprise. Ich sage, dass es bei mir keinen Unterschied gibt, ich bin Musiker. Auf einmal leuchten seine Augen: „Was für Musik?“ – „Nur sehr schöne!“ behaupte ich. Wir lachen, er erzählt, dass er bis zur Pandemie ein Studio betrieben hat, als Entertainer gearbeitet und Hiphop produziert hat. Wir stellen uns vor, er heißt Abid.
Abid lebt in der Gemeinde Friedlingen (Weil am Rhein) in der Nähe von Freiburg. Für die Stadt hat er gerade ein Lied aufgenommen. Er sucht es auf dem Handy, um es mir zu zeigen.
Sympathie schafft Not
Abid ist mir sympathisch, also habe ich Angst. Was soll ich machen, wenn er sich jetzt als aggressiver Gangstarapper outet? Wenn er mir mit seinem freundlichen Lächeln sein Lied vorspielt, in meinen Ohren ist es aber gewaltverherrlichendes Gepöbel und mediokre Mindestmusik? Das wäre eine moralische Katastrophe! Mein Höflichkeitszwang würde mich nötigen, das Missgefallen in freundlichen Lügen zu verstecken. „Tolle Tonart“ würde ich flunkern.
Mein Unterbewusstsein rappt den Teufel an die Wand
Während der liebenswürdige Autovermieter auf seinem Handy den Song3 sucht, bereitet mich meine paranoide Phantasie auf das Schlimmste vor. Abid scheint arabische Wurzeln zu haben, er hat gesagt, er ist in Duisburg in einer Brennpunktgegend aufgewachsen. Vermutlich hat alles, was gleich kommt, mehr mit Bushido und Kollegah zu tun als mit Johann Sebastian Bach oder James Last. Mein Unterbewusstsein rappt mir schon mal ins Ohr, wie grauenvoll es sein könnte:
🎵 „Ich komme von ganz unten,
hab mich hochgekämpft und zeig es euch,
ihr wolltet nicht an mich glauben,
jetzt fahr ich Lambo und bin reich.
Ihr zeigt mir statt Respekt
nur eure Ablehnung als Lohn,
doch ich knall eure Schlampen,
bin der Hengst in der Region.”
„Ich hab’s gleich!“ Abid scrollt noch immer auf seinem Smartphone, kurz verstummt mein innerer Bushido. Mir ist kalt. Das Unbewusste rappt weiter:
„Ich lass in Friedlingen
nicht nur mein Glied schwingen,
und meine Beats zwingen euch in die Knie.
Lass mir von Groupies Weed bringen,
die mir rapid Profit bringen.
Ich zieh Speed und ihr schluckt Schmutz,
ich schlürf Chablis.“🎶
Flauschige Klänge statt geistiger Enge
Kreidebleich stehe ich also im Freiburger Sonnenschein. „Da!“ Er findet das Lied auf seinem Handy, der Moment der Wahrheit naht – ich lächle schon mal zustimmend in vorauseilender Wertschätzung. Abid drückt auf das Dreieck.
Ich höre romantische Klavierakkorde. Keine Spur von menschenverachtenden Zuhältertexten oder prügelharten Pornobeats, aber eine angenehm samtige Schmusestimme. Sie erzählt vom Zusammensein und dem Glück zu leben. Ich stehe ganz nah bei Abids Handylautsprecher und muss weinen, so schön ist das, was ich höre. Ich schäme mich. Meine schlechten Gedanken hatten wieder mal nur etwas mit mir ganz allein zu tun.
Abid El Massoui bei Enterprise in Freiburg
Nichts deutete darauf hin, dass der sympathische Mann mit dem strahlenden Lachen und den freundlichen Augen ein Finsterling ist. Aber ich habe mir eben angewöhnt, meine eigenen Abgründe auf andere zu projizieren. Kann meine Therapeutin eigentlich irgendetwas?
Von den vielen PayPal-Spenden kann ich schon bald einen neuen Seidenschal kaufen – was habe ich für ein Glück! Ich freue mich über jeden Euro. Sonntagskind kommt jeden Sonntag zuverlässig per Mail, seit über zwei Jahren. Danke für Eure Unterstützung!
Ich brauche Eure Stimmen! Hin und wieder höre ich, ob es Sonntagskind auch als Podcast geben könnte. Ich habe Lust, das auszuprobieren. Dafür will ich als erstes einen Sonntagskind-Jingle produzieren, der immer zu Beginn jeder Ausgabe erklingt. Dafür wünsche ich mir das Wort „Sonntagskind” von Euch gesprochen, ich montiere das dann zusammen und Musik kommt auch dazu. Würdet Ihr einfach das Wort in Eure Handys sprechen und mir die Aufnahme schicken? Per Mail, auf Facebook, Insta, ganz gleich. Ich würde mich sehr freuen! mail@markscheibe.com
Hier ein unscharfer Akt von Gerhard Richter aus dem Jahr 1966
Ich entdecke zufällig, dass meine Freundin Yuko Hara mit ihrem Streichquartett in genau der Gegend in Frankreich spielt, in der ich mich gerade vom anstrengenden Leben des ignorierten Künstlers von Weltrang erhole. Ich überrasche sie mit einem Besuch ihres phantastischen Konzerts: das Streichquartett in A-Dur der mir unbekannten Komponistin Emilie Mayer aus dem 19. Jahrhundert haut mich um!
Jesus, Yuko und ich (v.l.)
Als ich ein Video zu meinem Lied „Fremdgehen” gedreht habe, wünschte ich mir, dass Yuko mit dem Bratschensolo zu sehen ist, das sie auch auf der Platte gespielt hat. Sie war zu dem Zeitpunkt in Tokyo, hat sich einfach einen Kameramann besorgt und sich vor den Lichtern der Stadt filmen lassen. Hier der Beweis:
Hast Du das Lied gehört? Marketingexperten empfehlen, einer gelungenen Hörerfahrung mit einer weiteren Werbebotschaft zu begegnen und erst danach eine Kaufaufforderung zu senden. Hier also die Werbebotschaft:
Die Kaufaufforderung erfolgt in der nächsten Kolumne! (Cliffhanger-Trick)
Sobald Abids Song veröffentlicht ist, poste ich hier den Link!