Wir Genussmenschen lechzen nach der Sonne, wollen vom Straßencafé nicht lassen, selbst wenn der Atem Kältewolken bildet. Wie wir Menschen, so die Kerze – sie brennt für die Geborgenheit. In ihrem Licht wird geliebt, gebetet und geflüstert. Während das Zentralgestirn sich aufführt wie ein egomanischer Dschungelkönig, alles kaputtstrahlt mit der penetranten Leuchtkraft seiner psychopathischen Dauerhitze, zeigt die Kerze Eleganz. Aufrecht trotzt sie dem Lärm des Sommers und harrt ihrer Zeit. Erst wenn die Nacht schon um 16 Uhr nach deiner Laune greift, schlägt die Stunde der Kerze. Wo die Sonne nicht mehr weiterkommt, wo ihr Strahl zu schlicht ist, leuchtet die wächserne Flamme hin. In die Winkel deiner Seele, in den Abgrund deines Gemüts.
Vor ein paar Tagen war doch schon Herbst! Irgendjemand hat bereits den ersten Supermarkt ausgemacht, der Spekulatius anbietet. Ich meinte, einen weihnachtlichen Duft in der Abendluft bemerkt zu haben.
Seit ich beschlossen habe, mein Sonntagskindsein nicht länger zurückzuhalten, passieren die außergewöhnlichsten Dinge. Uns Sonntagskindern wurde früher zugeschrieben, im Klang der Kirchenglocken Botschaften von Engeln hören zu können. Und dämonische Unholde am Geruch zu erkennen. Beides stimmt. Eine meiner größten Begabungen aber ist das Kerzenlesen:
Wenn sich eine wächserne Kerze kopfüber aus dem Lüster stürzen will und dabei mit dem Rumpf im Schaft stecken bleibt, sitzt der Weihnachtsmann noch unerkannt in einem Straßencafé. Wenn die Kerze nicht brennt, obwohl du sie angezündet hast, ist das eine optische Täuschung: durch die Krümmung der Kerze verlangsamt sich die Lichtgeschwindigkeit.