Der Rolling-Stones-Schlagzeuger Charlie Watts ist tot. Chefgockel Mick und Survivalexperte Keith konnten mich mit ihrem Rüpelsound nie vereinnahmen, denn ich empfinde symphonisch und trage gern Anzüge. Charlie Watts aber hat mich schon immer fasziniert. Ein Mann mit Haltung, ein Jazzer unter Wilden. Ich bin traurig.
Das Treppenhaus im Hotel Art Nouveau riecht nach Geschichte: die Holztreppen und der Jugendstil-Aufzug knarren vor sich hin. Ich öffne die schwere, hohe Haustür und trete in den sanften Abendregen auf der Leibnizstraße. Gegenüber ist das Kant Café, dort treffe ich Annabella. (Name von der Red. geändert) Auch sie trägt Geschichte: Ihre Erscheinung gleicht der einer Filmschauspielerin goldener Berliner Zeiten: Art-Deco-Ohrringe, ein Marlene Dietrich-Hosenanzug, Charlestonschuhe mit Grandezza-Absätzen, ein Wasserfall von blondem Haar, umwerfendes Divenlächeln.
Wir nehmen an einem Stehtisch in der spiegelglänzenden rotlichtigen Cocktailbar Platz. Eine Charlottenburger Schönheit mit zwei Nasenpiercings bringt uns Campari auf Eis. Annabella wohnt in Neukölln, dem West-Berlin auf der anderen Seite der Stadt. Sie fragt mich, ob ich am 24. September mit zur Klimademo komme. Die Dringlichkeit unter ihren ansonsten freundlich geschwungenen Augenbrauen legt nahe, besser eine offizielle Entschuldigung zu haben, sollte ich etwa nicht kommen wollen. Annabella ist wie Berlin, sie hat auch mindestens zwei Seiten, die auf den ersten Blick wenig gemeinsam haben. In Charlottenburg kann man an jeder Straßenecke 1.500€ für eine Jeans ausgeben, die Leute grüßen aber höflich. In Neukölln stellen Leute gern ihre gebrauchten Möbel und Kühlschränke auf den Fußweg, manchmal wird geschossen.
Annabellas Frage macht mich nervös: wir verstehen einander prächtig, zelebrieren gern das Leben und feiern den Augenblick. Manchmal, ganz selten, geraten wir allerdings ungut aneinander: dann geht es um politische Themen. Wie ferngesteuert kollidieren wir, unsere Ansichten entfernen sich in Lichtgeschwindigkeit, und nach wenigen Sekunden halte ich Annabella für Ulrike Meinhof und sie mich für Josef Goebbels. Ich würde viel lieber in glänzender Ausgelassenheit über das Glas mit der glutroten Flüssigkeit in Annabellas leuchtende Augen sehen und mich an ihren Erzählungen aus der Film- und Theaterwelt erfreuen. Aber es nützt nichts: die Rettung der Erde geht vor. Zum Glück habe ich ein Konzert an jenem Termin. Es ist ein privates Gartenkonzert – das geht so gerade als Begründung. Ich schlage vor, dass ich die Veranstalter davon abhalten würde, im Fall winterlicher Temperaturen klimaschädliche Heizpilze aufzustellen, überzeuge aber nicht.
„Guten Tag, ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter, Musikfilmemacher und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite und beim Frühstück widerfährt.“
Meine letzte Demo war Mitte der 80er. Ich war in Brokdorf und badete in Tränengas. Ich hatte schon damals gemischte Gefühle, hinter schlecht gekleideten Aktivisten herzutrotten, die wenig einnehmend in ein Megaphon brüllen. Megaphone sollten meiner Meinung der Polizei und Bademeistern vorbehalten sein und nur im äußersten Notfall benutzt werden. Tränengas sollte von Bademeistern nicht eingesetzt werden dürfen.
Wenn Annabella am 24. September inmitten von Megaphonen und Fahnen ein Manifest der Eleganz bilden wird, singe ich beim Gartenkonzert „Paint it black“ von den Rolling Stones. Ich stelle mir vor, dass Charlie Watts dem Tod gelassen, mit einem Drink in der Hand entgegengesehen hat.
Könnten wir es mit dem jetzt anstehenden Weltuntergang doch nur genauso machen.
FÜR CHARLIE WATTS
Wenn du uns sehen kannst im kleinen RBB,
dann sollst du wissen, dein Verschwinden tut sehr weh.
Stehst du am Himmelstor im Reich des lieben Gotts?
Wir glauben, er hat Sympathie für Charlie Watts!
Du bist ein Gentleman, ein Jazzer unter Wilden.
Ein Mann mit Anstand, dessen Rhythmen
Menschen bilden. Du bist ein Herr von Welt,
edel ist dein Ruf, weil du aus Riesenegos
einen Weltsound schufst.
Der Text ist ein cooler Mix aus Nostalgie und dem echten Berliner Vibe. Annabella ist diejenige , die zeigt, wie facettenreich Berlin ist ein Mix aus Glamour und Engagement. Diese Mischung aus Eleganz und Engagement ist das, was die Stadt so besonders macht. Es ist, als ob man durch die Straßen geht und die verschiedenen Facetten der Stadt selbst erlebt. Total spannend und irgendwie auch voll krass.