Konferenz der Schlaumeier
Nachtverhandlungen im Frontalhirn
Meine lieben 993 Sonntagskindempfänger, Freundinnen, Geneigte und Gefährten. Neugierige, Spontanbesucher, Begleitende und Inspirierende, in meiner Phantasie seid Ihr als Abonnenten dieser Kolumne Freigeister, der Schönheit des Lebens zugewandt. Für mich seid Ihr die gepflegte Elite der Onlinelesenden, die moralische High Society, die psychologisch denkende Upper Class. Das bilde ich mir doch nicht ein?
Was mein Unterbewusstsein in Wirklichkeit für ein Brimborium veranstaltet, um mich zu unterhalten, lest Ihr in der 218. Sonntagskind-Kolumne geschafft. Viel Freude!
Kann nicht einschlafen. Mein Gehirn hat mal wieder beschlossen, eine Mitternachtssitzung für Zukunftsvisionen einzuberufen.
Da sitzen sie dann, im geistigen UNESCO-Plenum, meine inneren Projektminister: links die Begegnungsaktivistin. Sie spricht mit der Zuversicht von Menschen, deren Vokabular aus der Prosa hunderter Anträge für den Haupstadtkulturfonds geschmiedet ist:
„Mark, hör zu: Es geht um Teilhabe. Um Zugänglichkeit. Kunst darf kein Elitentempel sein, sondern muss auf die Straße, in die Alltagswirklichkeit der Menschen.“
Sie lächelt ihr Coworking-Space-Lächeln: „Wir besorgen einen Truck mit Bühne und fahren in die Provinzen, die Fühlkammern der Republik: Cottbus, Saarbrücken, Fallingbostel. Räume öffnen, Sichtachsen erweitern, Begegnungschancen schaffen.“
Große Kreise malt sie in die Luft, als würde sie damit die Demokratie ankurbeln. „Auf dem Truck steht dein Flügel und du vertonst spontan die Biographien der Menschen – inklusiv, niedrigschwellig, immersiv. Kunst als Resonanzraum, verstehst du? Nicht Kunst über Menschen, sondern Kunst mit Menschen!“
Ein Leuchten in den Augen, als wäre das Bundesverdienstkreuz nur noch reine Formsache: „Damit legen wir echte kulturelle Transformation aufs Parkett – und einen roten Teppich zum Feuilleton der ZEIT.“ Sie strahlt in die Runde, als hätte sie gerade den Nahostkonflikt gelöst.
„Solange die KI nicht alle arbeitslos gemacht hat, sind noch Mittel in den Töpfen der Kulturförderung. Das muss jetzt. Für die Gesellschaft. Für die Zukunft. Für die Menschen, die nicht sichtbar sind – du bringst sie auf die Bühne.“
Daneben, leicht gräulich und mit sonorem Bariton: der kühlkopfige Verlagsmanager im schwarzen Merino-Rolli. „Reine Zeitvernichtung, mein Lieber. Energieverschwendung im Mantel des Edeltums.“
Seine Worte sind die Werkzeuge eines Steinmetzes, in keinem Wort wohnt Zweifel: „Schreib endlich deinen autofiktionalen Roman: Der letzte Dandy – der Titel trägt dich schon zur Lesereise. Deine hypersensible Weltwahrnehmung, dieses ewige Scheitern an der Realität, das eitle Ringen des Traumtänzers – das ist Gold. Die Leute wollen so was: ein Mann mit Hollywood im Lebensanspruch, der an der Wirklichkeit abperlt wie Einsamkeit am Champagner.“
Höre ich da Spott in seiner Ermutigung? „Und dein Scheitern hat Komik, was man ja auch daran merkt, dass du lieber die Nacht durchgrübelst, als den Griffel in die Hand zu nehmen. Los, an die Arbeit!“
Dem distinguierten Literaturfreund fällt der Marketingturnschuhmann mit den drei Handys ins Wort:
„Okay, real talk: Wie lange machst du jetzt schon diese Kolumne? Viereinhalb Jahre? Und du bist noch nicht mal vierstellig monetized? Come on.“
Er tippt währenddessen auf zwei Screens gleichzeitig, weil die Welt sonst stehenbleibt.
„Das Ding saugt dir die Ressourcen weg. Null Skalierung. No Reach, no Deals, no Brand-Value. Sorry, du burnst out.“ Er schaut auf die Screens und weiß: „Du musst den peak pushen. Forget Newsletter – launch Video!“
Er hebt ein Handy mit einer Logopräsentation wie der Exorzist den Kruzifix:
„The real Traumschiff. Konzertpodcast vom Hausboot. Premium-Content only – Champagner, Gäste, Steinway, ein bisschen Deep-Talk über Purpose und Life-Design, Sonnenuntergang auf der Spree.“
Er hat soeben die Kulturbranche neu erfunden, so selbstsicher guckt er durch seine Art-Director-Brille.
„Das ist deine Marke. High-End-Experience. Think bigger, mein Freund.“
Rechts vom Werbeprofi: eine Dame mit vollendetem Lidstrich und strengen Lippen. Die gesamte Fachliteratur der Kulturwissenschaft stapelt sich in ihrer Stimme zu einem erstickenden Timbre:
„Ach bitte“, beginnt sie, „dieser ganze transmediale Operetten-Überbau ist doch lediglich ein Surrogat für ästhetische Relevanz. Schreibe endlich ein zeitgenössisches Klangdrama, das jenseits der habituellen Atonalitätsapologetik operiert – eine zeitgenössische Oper. Aber nicht so ein Gekratze, das die Welt dekonstruiert, sondern ein Werk, das den nach Brecht und Adorno verlorengegangenen Rausch wieder interiorisiert.
Ein Opus, das den hegemonialen Anspruch einer verirrten Avantgarde inkorporiert, um den redundanten Diskurs zwischen E und U durch eine evidente Schöpfung zu substituieren, die dem vor der eigenen triebhaften Gestalt ins intellektuelle Vakuum geflüchteten postmodernen Kreatur seine Sinnlichkeit zurückgibt. Damit“, die schwarzgewandete Geistesfrau beugt sich vor, „würde auch die ins geistige Prekariat migrierte Überforderungsgesellschaft eine signifikante Rezeption des eigenen Lebenssinns geschenkt bekommen.
Wir langweilen uns doch seit Jahrzehnten – jede Woche kratzt sich ein hochbefähigtes Expertenensemble ohne jegliches Kommunikationsinteresse eine neue Uraufführung zurecht – und keiner traut sich, den visionslosen Auftragskomponeuren zu sagen, dass ihr subventioniertes Geknarze niemandem Freude macht. Oder wir erhalten harmlosen Musical-Schmu, als wäre Kitsch das einzige Affektkapital eines in die emotionale Starre hineinunterschätzten Publikums.“
Ihr Blick schneidet durch den Raum wie die Oboe beim Stimmen des Orchesters:
„Du hingegen“, ihre Lidstriche werden zu liegenden Ausrufezeichen, „hast dank ausgebliebener akademischer Prägung und deiner ganz eigenen bildungssystemischen Unberührtheit die seltene Fähigkeit, dem entsexualisierten Überbau der Hochkultur mit intuitiver Souveränität zu begegnen. Meißele die Grenze zwischen E und U aus dem Gebäude der Kunstmusik heraus wie historischen Mörtel. Jetzt. Bevor ein anderer beweist, wie simpel das ist.“
Ganz ehrlich: Bei so vielen genialen Ideen im Kopf werde ich zu einem Trottel, der vollkommen damit ausgelastet ist, vom eigenen Kopfkino überfordert zu sein.
Ein bisschen Gehirnkapazität habe ich noch über, um an Goethes Faust zu denken. Wie der Theaterdirektor mit dem Dichter und seinem Widersacher, dem Entertainer streitet und ihm der Geduldsfaden reißt: „Der Worte sind genug gewechselt, laßt mich endlich Taten sehn!” Und weiter: „Euch ist bekannt, was wir bedürfen, wir wollen stark Getränke schlürfen; Nun braut mir unverzüglich dran! Was heute nicht geschieht, ist morgen nicht getan.”
Mit diesem sehr klugen Schlussgedanken kann ich endlich einschlafen. Gute Nacht.
Wer hier zum ersten Mal vorbeischaut: Ich bin Mark Scheibe, der freundliche Snob, der mit seinem Steinway-Flügel auf einem Hausboot lebt – ignorierter Künstler von Weltrang. Ein Geheimtipp bin ich als Opernkomponist und Jazzsänger. Auch als Schlagertexter, Astrologe und Marathonläufer halte ich mich aus Anstandsgründen dem Glitzerlicht der öffentlichen Bewunderung fern. Mit meiner wöchentlichen Kolumne „Sonntagskind” versuche ich mich vor dem natürlichen Andrang auf mein stetig wachsendes literarisches Oeuvre zu verstecken.
Liste der neu erfundenen Wörter im 218. Sonntagskind:
Kühlkopfig, Edeltum, Fühlkammer, Coworking-Space-Lächeln, Marketingturnschuhmann, High-End-Experience, Atonalitätsapologetik, Auftragskomponeur, Überforderungsgesellschaft, Affektkapital, hineinunterschätzt.
Aus der Kajüte der Erkenntnis:
I. Wer sich treiben lässt, findet Ufer, die er nicht gesucht hat.
II. Man muss nicht alles verstehen, um berührt zu sein.
III. Schlaf ist Premium-Content.






Supercoole Ideen…!!!!!! The real Traumschiff 👏👏 „Der letzte Dandy“ würde ich aber auch lesen 💥🍀👌
Vielen Dank für die ersten Gedanken an diesem Sonntag — es war wie ein Gang über die Sprach-Kirmes 🙃 Riesenrad, Achterbahn, Zuckerwatte, Kettenkarussell, Märchengrotte, Wildwasserbahn… alles dabei 🌟🌟🌟
Danke für diesen Wortegedanken Remix im Sinnesrausch. Sowas als Video vom Traumsteinwayboot und die Klicks gehen ab wie bei Auspack Filmchen auf YouTube von Lippenstift, Keksen und Katzenbabys!
Schönen Sonntag, danke für Deine Inspiration ans Leben und trotz der Grausamkeit in der Existenz etwas Hoffnungsschönes zu bewahren!