Kultur hat Vorfahrt – Huprecht für Idioten?
Eine Ehrenrettung des Anstands im Straßenverkehr
Herzlich willkommen zum 194. Sonntagskind, liebe Freundinnen / Freunde! Habt Ihr Lust, bei meiner neuen Komposition zur 200. Ausgabe dabeizusein? Ihr müsst mir nur einen beliebigen Satz aus einer Sonntagskindkolumne ins Handy sprechen und schicken. Um Euch nicht das Studium aller wöchentlichen Texte seit Sommer 2021 zuzumuten, habe ich ein paar schmissige Sätze zusammengestellt, aus denen Ihr Euch bedienen könnt. Diese finden sich hier, schaut rein, es lohnt sich:
Aber nun zur Frühstücksliteratur:
Ich sitze im Erker meiner riesigen Wohnung am Stuttgarter Platz. In diesem Zimmer wurde Protestgeschichte geschrieben, hier photographierte Thomas Hesterberg für den Stern 1967 die berüchtigte Kommune 1 um Uschi Obermaier und Rainer Langhans. Trotz moderner Dreifachverglasung habe ich das Gefühl, mitten auf der Straße zu stehen. Hier drinnen vibriert noch die sexuelle Revolution, aber draußen hupt der Mob.

Hupen ist kommunikativer Bankrott. Die Autohupe ist eine gigantische Misskonstruktion infolge einer Fehleinschätzung der menschlichen Natur. Der Not-Button fürs Über-Ich: „Hört! Ich existiere!” Dem geknechteten Zwangsmenschen im Korsett seiner Konventionen ist die Motorisierung ein Kick: Viagra fürs selbstmitleidzerfurchte Ego. Die PS-Erektion des erschlafften Eigenwerts – wer kann da widerstehen? Mitten auf dem Lenkrad, mit dem der Straßenstreuner sein erbärmliches Über-, nein, Unter-Ich zum Stadtverkehr-Kampfpiloten aufpumpt, befindet sich ein riesiger Druckknopf zum Draufpatschen, mit dem er elefantösen Lärm machen kann.
Eigentlich als Warnsignal für den Augenblick akuter Not vorgesehen, muss die Hupe als Sprachrohr für niedrigste Behauptungen herhalten. In den meisten Fällen bedeutet das Hupsignal: „ICH HABE RECHT!!!“, manchmal auch „ICH BIN DER EINZIGE, DER HIER AUTOFAHREN KANN!!!“. Am Wochenende, wenn Hochzeiten mit Autokorsos vorgeführt werden, wird es besonders laut: Da dient das Hupsignal dem wiederholten Bekenntnis von Männern, die es selbst nicht glauben können: „SEHT HER, WAS ICH LOSER FÜR EINE GEILE BITCH KLARGEMACHT UND GEHEIRATET HABE!!!“
📨 Du bist neu hier?
Willkommen in der lärmbefreiten Zone.
Wenn du Lust hast auf wöchentliche Kolumnen aus dem akustischen Widerstand, auf Kultur mit Haltung, Polemik mit Charme und das ein oder andere Hupen im Herzen – dann abonniere Sonntagskind. Es ist so gratis wie das Zwitschern der Amsel.
Als 13-Jähriger radelte ich auf meiner klapprigen Gazelle durchs Bremer Steintor, Auf dem Gepäckträger saß Claudia. Polizisten hielten uns wegen dieser vorschriftsfremden Reiseweise an. Sie schimpften, uns fehle die sittliche Reife für den Straßenverkehr. Dann drehte einer der beleidigten Staatsdiener am Ventil des Hinterreifens, und ließ die Luft raus. Er wollte uns damit Mores lehren, wie er noch freundlicherweise erläuterte.
Damals hing an jedem zweiten geparkten Rad eine Luftpumpe, darum hatten wir schnell wieder ein aufgepumptes Hinterrad. Der Schupo hatte recht: wir radelten auf ganz und gar unsittlichen Reifen weiter und erfreuten uns an unseren pubertären Gedankenspielen, in denen wir im Geiste an dem entliebten Prinzipienreiter vorbeitrabten. Wir fühlten uns dem uniformierten Zwangscharakter in unserer Triebhaftigkeit überlegen. Wir waren Uschi Obermaier, der Polizist der spießige Beamtenstaat.
Heute bin ich in dem Alter, wo ich lärmenden Huprüpeln die sittliche Reife abspreche – und von Konsequenzen träume, gegen die ein entlüfteter Reifen wie ein sanfter Erziehungskuss wirkt. Die trötenden Selbstdurchsetzer dürfen mit ihrer Verrohtheit nicht durchkommen. Die Polizei aber winkt das idiotische Angebergehupe durch, aus kultureller Rücksicht. Wird geheiratet, galoppiert dem Amtsschimmel der Anstand davon – mit dem Blick fürs Maß.1
Wer Kultur nicht von Barbarei unterscheiden kann, kann gerne mal an einem Samstag zu mir an den Stuttgarter Platz kommen und sich an die Ecke Kaiser-Friedrich-Straße stellen. Ein Transparent mit der Aufschrift „Kultur hat Vorfahrt“ stelle ich zur Verfügung, inklusive Eselsmaske. Vom Dauerlärm hupender Limousinen wird der Irrende erst befreit, wenn er ruft: „Zum Teufel mit Euch lärmenden Kretins, Euch gehört der Führerschein entzogen! Und die Menschenrechte!”
📣 Teile diesen Text mit Menschen,
– die denken, eine Hupe sei ein Argument,
– die Gehabe mit Kultur verwechseln,
– oder die einfach Spaß an Satire mit Stil haben.
Bevor man weitere Kulturausgaben kürzt, sollte man sich darüber Einsicht verschaffen, dass nicht aus jedem Mist Kultur wird, nur weil viele Leute ihn immer wieder verbocken. Ansonsten schlage ich vor, dass Christian Thielemann zwischen Strauß und Wagner mit der Staatskapelle mal einen Abend mit Ballermann-Repertoire gibt. (Anmerkung der Kulturredaktion: Leider gar keine schlechte Idee: Micky-Krause-Melodien im spätromantischen Umnachtungs-Sound? Es könnte die Rettung der zeitgenössischen Oper sein!)
Im nächsten Schritt beantragen wir beim Haupstadtkulturfonds die Förderung des kulturellen Hochzeitslärms mit öffentlichen Mitteln. Spätestens dann schaue ich mich um, in welchem Land man eine lärmbefreite Kommune gründen kann. Was macht eigentlich Uschi Obermaier?
Leute, Ihr schreibt mir schöne Mails, macht mir süße Komplimente, überweist mir mehr als nur Trinkgelder: Ich weiß das sehr zu schätzen, aber das reicht nicht – ich will Eure Stimmen! Bitte sprecht mir Sätze ein, dann kann ich komponieren. Schaut hier vorbei. Danke!
Als Sprachexperte bin ich ein unschlagbarer Rechtschreibprofi. Ein Grammatikhengst, ein orthographisches Genie. Dachte ich. Seit einiger Zeit weist mich meine allerliebste Deutschlehrerin Katja Thal auf schriftsprachliche Lapsi in meinen Sonntagskindkolumnen hin. Diese den Horizont meiner Schlauheit erweiternden Anmerkungen gefallen mir so gut, dass ich Katja Thal – mit ihrer Erlaubnis – hier zitiere. Wenn Euch das gefällt, sagt es mir, dann wird das eine Rubrik!
NACHTRAG: Zu mir selbst: “Well done, Einstein”! Da feiere ich sprachlich hochtrabend mich selbst als Sprachgott – und werde zurecht korrigiert. Holger und Jan Uwe weisen mich daraufhin, dass der Plural von Lapsus nicht “Lapsi” ist, sondern sich “Lapsus” schreibt, mit langem U gesprochen. Aber ma ehrlich, woher soll ich das wissen, ich habe noch nicht mal Abitur! Mehr dazu im nächsten Sonntagskind!
Es war wieder mal genial und hat mir so aus der Seele gesprochen. Danke.
Sorry für weitere Grammatikkritik, aber der Plural von Lapsus ist Lapsus (mit langem uu)
:-)