Etwas zu kritisieren, was schon da ist, ist viel leichter als etwas Neues zu schaffen. Ich kenne das aus gemeinsamen Songwriting-Sessions: Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, in der Phase des Findens jede Idee durchzulassen, erscheint sie einem auch noch so abwegig. Erst später, wenn ein Plot greifbar ist, diskutiert man, ob diese oder jene Zeile geeignet ist, die verabredete Aussage im passenden Stil zu erfüllen.
Paul McCartneys „Yesterday“ war in seinem ersten Entwurf ein Lied über die Lust, Rührei zu essen. „Scrambled egg, how I’d loved to eat a scrambled egg.“ Hätten John, George und Ringo zu Paul gesagt: „Was soll denn der Scheiß, hör mal auf zu kiffen“, wäre uns eines der erfolgreichsten Werke der Popmusik vielleicht verborgen geblieben.
Auch die folgenden Zeilen lassen sich leicht vernichten. Wer kommt auf die Idee, so eine unbeholfene Teenagerlyrik ernsthaft einem der größten Stars der deutschen Musikindustrie anzubieten?
Ich schließe meine Augen, lösche jedes Tabu, Küsse auf der Haut so wie ein Liebes-Tattoo, oho, oho.
Wenn die Deutschlehrerin in der 10. Klasse des Gymnasiums den Lehrplanstoff „Liebe im Spiegel der Lyrik“ anhand selbstgedichteter Schülerbeispiele durchgeht, bekommt die kleine Kristina nur eine knappe Schulnote 4 für die unbeholfene Metapher mit der Tätowierung, die sich nicht wirklich reimt.
Auf Helene Fischers Konzerten singen aber Zehntausende die schwache Lyrik von Kristina Bachs Megahit „Atemlos“ begeistert mit. Ist „Atemlos“ ein guter Song, nur weil er millionenfach gekauft wurde? Ist „Yesterday“ ein schlechterer Song? Ich habe meine Meinung dazu, aber die ist für Millionen Helene-Fischer-Fans irrelevant. „Atemlos“ in einer Kritik zu vernichten, ist ganz einfach: viele Melodiepassagen gab es schon vorher. Man kann der Komponistin vorwerfen, juristische Schlupflöcher zu nutzen, in deren Schutz sie vor Plagiatsklagen sicher ist. Nichts an dem Song ist originell, er reproduziert Klischees, etc. Auch Yesterday kann man fertigmachen. Strophen von Popsongs haben acht Takte, nicht sieben. Was soll der Quatsch? Es gibt noch nicht mal einen Refrain! Deswegen waren die übrigen Beatles auch gegen die Veröffentlichung dieser schlappen Nummer, die zum meistgecoverten Song aller Zeiten wurde.
Wer weiß schon, was gute Kunst ist? Der Leiter der Nervenheilanstalt im französischen Arles hat die Zeichnungen des Patienten Vincent van Gogh seinen Kindern überlassen, damit sie etwas haben, worauf sie beim Pfeil-und-Bogen-Schießen zielen können.
Trotzdem gibt es zu jeder Zeit Experten, die sich ganz sicher sind, dass ihre Betrachtung mehr ist als nur Privatgedanken1.
Der Autor beim Komponieren, 1993. Photo: Kay Michalak
Der Autor beim Schreiben dieser Kolumne, während er kritische und belehrende Worte an die Besuchskatze spricht.
Mitte der 1990er Jahre hatte ich in Bremen mein erstes Engagement als musikalischer Leiter und Arrangeur für eine Musiktheaterproduktion: das Tom-Waits-Musical „The Black Rider“. Ich hatte die Musik für ein Ensemble arrangiert, das ganz anders zusammengestellt war als die Originalbesetzung. Der Verlag schrieb mir auf Rückfrage, eine Bearbeitung sei nicht gestattet. Ich schrieb zurück, dass ich ganz sicher wäre, dass meine Bearbeitung im Sinne von Tom Waits wäre. Der Verlag leitete meine Aufnahmen an den Meister weiter. Der rief mich mitten in der Nacht an und beglückwünschte mich zu den Arrangements. Ich konnte mein Glück nicht fassen und dachte, ich träume! Umso geschockter war ich, als ich nach der Premiere die Worte des Kritikers in der Taz las:
„Bei Waits ist diese Musik zackig und marktschreierisch, bei Scheibe soll sie wohl bedrohlich wirken, wirkt aber leider tranig. In anderen Schlüsselsongs wie ,Just the Right Bullets’ bewegt die Band sich eng an den Originalen – und tut gut daran.“
Erschüttert suchte ich im Telephonbuch nach der Adresse des Schmierfinken. Ich fand ihn und machte mich auf den Weg. Klingelte, die Tür ging auf, ich trat ein und schloss die Tür hinter mir. Der Rezensent stand zitternd an der Wand. Das gefiel mir. Ich hätte ihm nichts getan, aber das wusste er ja nicht. Er gab zu, sich nicht wirklich mit dem Stück beschäftigt zu haben und räumte ein, von Musik nicht viel zu verstehen. Ich rang ihm das Versprechen ab, eine Korrektur zu veröffentlichen und ließ ihn in Ruhe. Danach meldete sich die Redaktion mit der Androhung juristischer Schritte. Ich ließ los und verdaute die Schmach.
Neulich hat der Hannoveraner Ballettchef eine FAZ-Kritikerin auf ekelerregende Weise verletzt.2
Ich wollte wissen, was den Choreographen so aufgebracht hatte, und las die Kritik.3 Den Schreibstil der Rezensentin finde ich anmaßend. Wer eine so große öffentliche Bühne wie das Feuilleton der FAZ nutzen darf, darf sich nicht wundern, wenn herabwürdigende Worte scharfen Widerhall finden. Ich verstehe den Zorn des Künstlers. Wer allerdings wem auch immer Hundekacke ins Gesicht schmiert, darf sich nicht wundern, wenn er nicht als Künstler in die Geschichte eingeht, sondern als Arschloch.
Einen profunden Richter über die Schöpfungshöhe künstlerischer Leistung schreibt Regisseur Helmut Dietl seinem „Monaco Franze“ ins Drehbuch: der Kritiker Hans Boeetner-Salm verreißt eine Walküre-Premiere in der Münchner Staatsoper so virtuos, dass die vernichtenden Worte ein Befreiungsschlag aus der Hochnäsigkeit der Kulturschickeria werden. „Brünhilde: indisponiert bis schlecht, der Wotan so farblos, dass er gar nicht vorhanden ist.“ Im Film ist das witzig, in Wirklichkeit unausstehlich. Der ungebildete Monaco Franze hat den Kritiker belauscht, als dieser seine vernichtenden Sätze der Süddeutschen Zeitung ins Telephon diktierte, dann bestürzt er die feine Gesellschaft. Link zum Video.
Wer sich wundert, dass das heutige Sonntagskind nicht wie gewohnt zur Dämmerung kam: die 25. Ausgabe der Melodie des Lebens ist schuld. Das symphonische Educationprojekt mit meinem Freunden von der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen ist ein Kraftakt. Er kommt gänzlich ohne Beleidigungen und Überheblichkeit aus, macht aber einen Haufen Arbeit. Ein Filmteam von SAT1 hat einen Eindruck mitgenommen:
https://www.sat1regional.de/melodie-des-lebens-schueler-spielen-eigene-lieder-mit-der-deutschen-kammerphilharmonie-bremen/
Das ist der Grund, weshalb viele Autoren/Schauspieler/Musiker keine Rezensionen mehr lesen, sehr vernünftig und verständlich. “There is no bad publicity” stimmt zwar, aber es kostet definitiv viel Nerven 🙈