Maskentragen hat Vorteile. Ich als Neurotiker freue mich, das bewusstlose Mienenspiel schlechtgelaunter Smartphonesklaven in der S-Bahn nicht sehen zu müssen. Als Einzelkind fühle ich mich nämlich für das Gemüt meiner Mitmenschen verantwortlich. In öffentlichen Verkehrsmitteln bedeutet das Stress – ich halte mich leicht für schuldig an der miesen Stimmung im Abteil.
Die Maske schenkt mir außerdem einen kleinen Privatraum, in dem ich Grimassen schneiden kann, ohne für geistesgestört gehalten zu werden. Für eine Sonnenbrille fehlt mir die Abgebrühtheit. Mich lenkt der Zwang, durch Augenleuchten fürsorgliche Präsenz zu demonstrieren. Das geht nicht mit einer Ray-Ban auf der Nase.
Anne Will erklärte mal in einer Talkshow, wie sie die Lampen hinter den Augen anknipsen kann. Ich habe es sofort ausprobiert, es funktioniert! Einfach Halogenspots hinter den Augäpfeln imaginieren, kurz an der Schläfe den Drehschalter betätigen, schon wird aus einem unbeteiligten Geisterbahngesicht ein strahlendes Gewinnerantlitz. (Siehe Photos)
Die Augen lassen Absichten erahnen. Sie verraten grobe Ganoven und feine Fühler. Verhuschte Sensibelchen und Testosteronkanonen mit Alpha-Anspruch. Sie sind einfach das Schaufenster der Seele. Der Reisepass des Gemüts, das Zertifikat des Temperaments. Wir können mit dem Mund ein Lächeln faken. Machen aber die Augen nicht mit, erkennt jeder die Fälschung. Eine Neurologin hat mir das mal erklärt: es ist der ventrale Vagus, der unser Begegnungsinteresse lenkt. Nur bei einem echten Kommunikationswunsch wird er aktiv, dann gehen die Lampen hinter den Augen auch von alleine an.
Beim Scrollen durch zeitfressende Instagramreels stoße ich auf die Anleitung für ein Modelgesicht, bitte unbedingt ausprobieren: 1. Lächeln ohne Augenbeteiligung 2. Augenbrauen hochziehen 3. Mundwinkel fallen lassen, Brauen bleiben oben. That‘s your model face! Die ganze attraktive Arroganz entsteht also durch offene Augen und einen unbeteiligten Mund. Tote Lippen und hyperwacher Blick: so geht sexy. Niemand wants your smile, baby! Mein Tipp für den ewigen Maskenalltag: Trainiere deine Augenpräsenz.
Das sollte die Bahn ihrem Mitarbeiter vom Auftragsabwehrdienst im sogenannten Reisecenter hinter die Maske schreiben: Mit dem Charme eines russischen Außenministers sorgt er hinter seiner Schreibtischfestung für Endstationfeeling. Das Mitgefühl für Reisende hat er vor einen verspäteten Ersatz-ICE geschubst. Es ruht jetzt für immer im Gleisbett der Seelenlosigkeit. Ob eine verwirrte Seniorin, die mit ihrem Gepäck kämpft und keinen Aufzug findet oder eine Familie mit komplizierten Zugverbindungen ohne Deutschkenntnisse: alle lässt er spüren, dass ihre Reise hier zuende ist. Wahrscheinlich hat er seinen ventralen Vagus zwischen den betonierten Mundwinkeln eingeklemmt. Er macht sich noch nicht einmal die Mühe, ein Lächeln zu fälschen. Ich frage mich, wann endlich die Mund-Nasen-Augenbedeckung eingeführt wird.
Liebe Leserin, lieber Leser. Als Bühnenkünstler bin ich Applaus gewohnt. Auch, wenn es dir profan vorkommt: ein “Like” fühlt sich gut an. Auch freue ich mich über einen Kommentar. Das Abo bringt dir Sonntagskind jede Woche per Mail. (Es kostet nichts). Einen schönen Sonntag und danke fürs Lesen!