Letzte Woche spielte ich mit meiner Band im A-Trane, Berlins schönem Jazzclub. Bei der Probe hatte ich das Gefühl, es wäre die falsche Zeit für mein Konzert: es kam mir plötzlich unangemessen vor, die folgende Textzeile zu singen: „Genießen ist meine Religion. Unterm Weihwasserfall ist heut Sündenfallball. Die Realität – wen interessiert die schon.“
Meine iranische Freundin berichtete mir zuvor von den seltenen Telephonaten mit ihrer Cousine in Teheran. Sie sagte, dass alles in Wirklichkeit noch viel schlimmer sei, als wir hier erfahren. Dass die Sittenpolizei willkürlich Leute auf der Straße einsammelt. Dass Freunde, die sich auf der Straße treffen, nicht mehr miteinander zu sprechen wagen, weil ihre Zusammenkunft als illegale Demonstration gedeutet werden kann.
Während ich von meinem Rechner noch ein paar Noten per Airdrop auf die Tablets meines Streichensembles schicke, können die persischen Cousinen sich wieder einmal tagelang nicht austauschen, weil das Horrorregime im Iran das Internet ausgestellt hat. „Siehst du schwarz, probier’s mal mit bunt“ singe ich in der Probe.
Vor dem nächsten Song freue ich mich darüber, dass die ukrainische Armee die Truppen von Russlands perversem Tyrannen zurückdrängt. Ist das nicht minder pervers? Als ob „Zurückdrängen“ nicht „töten“ hieße.
„Oder reist du durch die Welt und wanderst im Jemen, triffst freundliche Leute auf dem Pfad. Sie sagen dir beim Essen, du wärst jetzt, so sei’n die Pläne, Gefang’ner vom Islamischen Staat.“ – hauche ich zu einem funky gespieltem Bluespiano. Ich habe an dieser Stelle einen Tumult in der Band inszeniert. Man hört auf zu spielen und empört sich über meine geschmackliche Entgleisung mit dem Islamischen Staat. Einen Halbton höher geht es dann weiter und alle singen nach dem ironischen Schauspiel „Keine Angst, es wird gut.“
Das alles fühlt sich plötzlich erbärmlich an. Mein ganzes Album „Champagner für alle“ erscheint mir im Licht der grausamen Gegenwart als oberflächliche Farce, als komplett unbedeutender Schmu. Muss man nicht der Angst vor dem Krieg eine Stimme geben und den Schmerz herausschreien anstatt Swingschlager über Lebensfreude zu trällern? Ist man als Komponist nicht verpflichtet, die Dissonanz zu suchen, den kollabierenden Krach, der den drohenden gesellschaftlichen Absturz zum Klingen bringt? Muss man als Chansonnier jetzt nicht klagen und mahnen? Erwartet das Publikum jetzt nicht einen thematischen Bezug zum entsetzlichen Wandel der Welt?
Vor dem Konzert lasse ich die Selbstzweifel aus berufshygienischen Gründen erstmal in der Garderobe. Das Streichensemble spielt einen Fanfarenakkord – ich springe auf die Bühne und werde mit Applaus begrüßt, freue mich des Lebens. Während des Singens am Flügel spüre ich die Verbundenheit mit den Menschen im Club. Ich beobachte, wie sie mit der Musik Kontakt aufnehmen, wie sie sich an den Streicherklang lehnen und vom Swing bewegen lassen. Wie sie meinen Worten folgen und mitkommen, in eine andere Welt.
Zwischen den Zeilen meiner leichten Lieder merke ich, dass alles andere dort auch Platz hat: der Schmerz, die Angst, der Frust. Dass es keiner Worte bedarf, um dessen gewahr zu werden, was schon in der Zeitung steht. Am Ende ist alles gut. Ich sehe leuchtende Augen, lächelnde Menschen. Der Baum der Erkenntnis spendiert eine köstliche Frucht: wir können den Segen der Gemeinschaft erleben und die Leichtigkeit des Seins genießen. Unterm Weihwasserfall ist Sündenfallball.
Die Geste mit dem Mittelfinger ist eine Botschaft an die Realität. Das Karussellpferd symbolisiert die ewige schöpferische Kraft, die in ihrem Moment keinen Kummer kennt. Mein Lächeln steht für die Dankbarkeit, in einer Gesellschaft zu leben, die wirklich friedlich und freiheitlich ist. Photo: Martin Peterdamm