Ich war auf der Bühne.
Spielte einen Ausschnitt aus meinem neuen Programm, das mit der Unterzeile „Songs und Storys eines zwanghaften Optimisten“ wirbt. Ich war mir nicht sicher, ob es gut werden würde. Scherz beiseite, getreu meiner Maxime „Der Sarg ist noch halbleer“ gestattete ich mir keine Todesangst.
Die Show war im Gerhard-Marcks-Haus, dem berühmten Bremer Bildhauereimuseum, das nach dem Schöpfer der Skulptur der Bremer Stadtmusikanten benannt ist, im Rahmen der Langen Nacht der Museen.
Da saß ich also an meinem Flügel, umringt von mannshohen Bronzen.
Ich spiele gern inmitten hochkulturiger Exponate. Lieber als, sagen wir mal, im Eingangsbereich eines Autohauses. Oder auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums am verkaufsoffenen Sonntag. Solche Erfahrungen brennen sich ein: Man singt sich die Seele aus dem Leib und versucht, dem wackeligen E-Piano die Konzertaura eines Steinwayflügels einzumassieren. Währenddessen wird man von Kleinkindern beschimpft und von Säufern bemitleidet – da kommt man nicht in Versuchung, größenwahnsinnig zu werden. Aber hier, zwischen all den Plastiken fühle ich mich selbst wie ein piece of art. Ich bin eine lebende Skulptur. Ein biologisches Exponat mit Seele. Da ist der Optimismus wieder!
Ich überlegte, ob ich beim Auftritt ein Schild aufstelle: „Installation mit erhöhtem Verherrlichungsbedarf – bitte nur mit aufrichtiger Liebe betreten.“ Sind Bühne, Licht und Aufmerksamkeit in greifbarer Nähe, denke ich oft: Wo ist eigentlich mein Sockel inkl. Beschriftung?
In einem seriösen Haus wie diesem kann man schließlich davon ausgehen, dass es sich bei den Ausstellungsstücken – also auch mich – nicht um zeitgeistigen Kitsch handelt, alles wurde schließlich profund kuratiert. Wozu finanzieren wir mit unseren Steuern kostspielige Studiengänge wie Kunstwissenschaft? Damit aus diesen Unis kluge Expertinnen hervorkommen, die garantieren, dass die Gips- und Bronzehaufen in den weitläufigen Hallen kein Schrott sind, sondern Werke von Genies. Heute bin ich selbst Exponat. Im Schutz der klugen Wissenschaft: Ich bin Kunst!
Manchmal habe ich das Gefühl, mein Leben ist selbst so eine Lange Nacht der Museen. Überall kuratierte Räume: das Kabinett der klugen Gedanken, der Festsaal der pointierten Aphorismen, das Boudoir der Sehnsucht. Ein anderer Raum heißt „Spiegelsaal des Lebenssinns“, leider hat die Tür keine Klinke. Auf der Eingangsluke zur Großen Geheimniskammer steht in blutigen Buchstaben „Auf keinen Fall öffnen“.
Ich genieße diesen kulturellen Glamour, der sich in Nähe von Samtkordeln einstellt. Ich liebe die Möglichkeit, aus Nichts ein Jetzt zu machen. Und gleichzeitig fragt etwas in mir: Muss ich mich wirklich immer wieder ausstellen, erklären, beweisen – sei es auf der Bühne oder im Internet?
Natürlich weiß ich, wie paradox das alles ist. Ich schreibe diese Zeilen in dem Wissen, dass ich sie veröffentlichen werde. Wenn ich veröffentliche, lebe ich. Ich übe meine Show mit dem Ziel, beklatscht zu werden. Ich erzähle öffentlich, wie privat alles ist. Ich finde übrigens die Angst vor Kitsch bescheuert. Hätte ich Angst vor Kitsch, ich hätte meinem sehr geliebten Publikum nicht diese Insidergeschichte erzählen können: „Gerhard Marcks brach mit seiner Skulptur der Bremer Stadtmusikanten ein Familiendrama vom Zaun. Für Marcks waren die fünf todgeweihten Tiere, die sich auf den Ausweg in eine bessere Zukunft machen, Propheten der Blütezeit des Individualismus – leuchtende Repräsentanten der unbedingten Persönlichkeitsentfaltung. Diese philosophische These verärgerte Gerhard Marcks’ Bruder, der vielmehr der Gemeinschaft höchsten Wert einräumte, in der die Verwirklichung des eigenen Selbst hintan zu stehen hat. Die beiden sprachen bis zu ihrem Tod kein Wort mehr miteinander, der Bruder Karl trieb seine Distanzierung sogar derart auf die Spitze, dass er entschied, seinen Familiennamen fortan mit einem X am Ende zu schreiben.” Mögen Eure Särge nicht mal annähernd halbleer sein, verehrte Sonntagskindler – ich wünsche einen herrlichen Sonntag.
Euer Mark