Verehrte Geneigte, Gefährtinnen, Abonnenten,
Ihr seid in Zahlen – Stand heute – neunhundertfünfundvierzig Lesende, über die ich mich jeden Sonntag freue. Ich frage mich: Wer sind diese sehr geschmackvollen und sicher sehr gut aussehenden Menschen, die meine wöchentliche Kolumne abonnieren?
Ich gehe davon aus, dass ich hier noch einige Zeit gratis schreibe. Das macht mir nichts aus, weil ich das meiste Geld so verdiene, dass ich es zum Fenster rausschmeiße, bis es zur Tür wieder reinkommt (mit meiner „Arbeit“ als Komponist und Musiker).
Meine Währung ist, von gelegentlichen Spenden abgesehen, Eure Aufmerksamkeit. Mir ist wichtig, sorgfältig mit ihr umzugehen: Ich veröffentliche keinen Smalltalk. Poliere Sätze, bis sie klingen und wirken. Wie ein Musikstück soll meine Kolumne sein: Mit Sinn in jedem Ton; so ist es auch mit jedem Wort und – des Rhythmus’ wegen – jeder Silbe.
Weil Eure Aufmerksamkeit meine Substack-Nahrung ist, seht mir nach, dass ich Eurer Lesezeremonie eine Bitte voranstelle:
Liked meine Kolumne,
empfiehlt das Sonntagskind-Abonnement,
schickt diesen Text Euren Freundinnen und Freunden.
Restackt einzelne Sätze, die Ihr für zitierenswert haltet.Danke! Damit verhelft Ihr dieser, der 206. Kolumne zu Sichtbarkeit – und mir zu Ruhm und guter Laune. Ich wünsche viel Vergnügen mit meinem frühstücksliterarischen Ratgeber für den stilvollen Weltuntergang, einer Mentalinjektion Lebensfreude, dem sonntäglichen Bekenntnis zum Glück!
Kurzzeitwissen, Langzeitwitz
Warum bin ich so aufgeregt? Ist doch nur die Prüfung zum Sportbootführerschein. Vollgedampft mit heißer Wissensluft hatte ich heute früh mein Hausboot abgeschlossen, die Gangway eingeklappt – dann eisenbahnte ich von Ueckermünde nach Berlin.
Entschlossen, das Freizeitkapitänspatent zu bestehen, stehe ich mit vierzig anderen in der Schlange. Manche murmeln Formeln, mit denen sich aus der zurückgelegten Distanz in Seemeilen und der Schiffsgeschwindigkeit in Knoten die geographische Position ermitteln lässt. Andere vergewissern sich im Gespräch über die richtige Betonnung von Verkehrstrennungsgebieten an Flüssmündungen. Einige halten ein Stück Tau in den Händen, mit dem sie Schotstek, Kreuzknoten und eineinhalb Rundtörns an ihr Körpergedächtnis festbinden. Ich denke daran, dass die Vorschriften für Positionslichter bei Schiffen unter 20 Meter in Teil II der Seeschifffahrtsstraßenordnung stehen. Nicht etwa in Teil I!
Amt mit Anzug-Allergie
Am Ende der Schlange zeigt man Ausweis und Kfz-Führerschein vor. Ich öffne meine Herrenclutch1, alles ist da, nur der Führerschein nicht. Kein Problem, denke ich, zeige ein Photo der Fahrerlaubnis in meinem Telephon vor und schlage vor, den Führerschein nachzureichen.
„Sie leegn hier een amtlichet Dokument oofn Tisch oder ik lasse Sie nich zur Prüfung zu. So einfach is dit. N Foto hülft Ihn da ja nüscht.“
– verkündet der offizielle Außenposten der Prüfungskommission. Ich kontere mit der Freundlichkeit eines Aikido-Yogi:
„Ich freue mich, dass Sie unsere Gesetze so ernst nehmen. Aber könnten Sie angesichts dessen, dass ich nur der Prüfung wegen nach Berlin gekommen bin, für mich ein Auge zudrücken?“
Entweder habe ich schon verloren, weil ich in Anzug und Lackschuhen vor ihm stehe oder der Amtsmann ist doch sensibler als ich denke – und hört meinen Subtext:
„Dafür, dass Sie Ihren fetten Arsch hier von meinen Steuern plattsitzen, haben Sie eine ganz schön große Klappe, Sie widerwärtiger Kretin.“
Ich ziehe also von dannen. Nicht bestanden. Nicht durchgefallen: Nicht zugelassen, mit schwindendem Kurzzeitwissen.
Auf dem Weg zum Bahnhof entscheide ich mich gegen Groll. Rede mir gut zu, dass ich noch mehr Zeit zum Lernen habe, wenn ich den nächsten Prüfungstermin in vier Wochen wahrnehme.
Eiszeit in der Ersten Klasse / Sibirien light
Mein Frohmut wird ein zweites Mal geprüft. Der RE Richtung Ostsee fährt nicht los, der Anschluss nach Ueckermünde wird immer unwahrscheinlicher. Nach 50 Minuten rollt der Zug, mit einer auf erfrischende 14 Grad heruntergekühlten 1. Klasse vom Gleis. Der Brandenburger Zugbegleiter muss ein Verwandter meines gnadenlosen Prüfungsmannes sein: Ich frage, ob er das Abteil ein paar Grad wärmer machen kann, er sagt:
„Dit is nich kalt hier. Sibirien is kalt! Wenn sich nich alle so anstelln würdn, wär et besser bestellt um unser Land. Aba nüscht füa unjut, ik schau ma nach, ob ik wat tun kann.“
Konnte er offenbar nicht.
Wer sich für etwas besseres hält und meint, in der 1. Klasse sitzen zu müssen, soll wenigstens schlottern – so reimt sich der im Dienste der ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaatler arbeitende Reichsbahnscherge seine Idee von Gerechtigkeit wahrscheinlich zusammen. Aber ich bleibe entschlossen: No Groll.

Stellwerk des Schicksals
Der Zug nach Ueckermünde ist weg, einen späteren gibt es nicht. Aufklärung schafft ein privat reisender Bahnmitarbeiter: Zwischen Pasewalk und Ueckermünde gibt es nur noch einen einzigen Fahrdienstleiter, der sich um die Stellung der Weichen und Signale kümmert, weiß er. Und der arbeitet Teilzeit – ist das Stellwerk nicht besetzt ist, fahren eben keine Züge.
Ich phantasiere von einer Strafversetzung des Bootsscheinprüfers ins Stellwerk nach Pasewalk, tiefgefroren von meinem Gulagschaffner. Der Gedanke verschafft Genugtuung. Ich wage ein Lächeln, meine Mundwinkel klirren ein wenig.
Der Dreimaster-Doktor endet das Darben
Mit etwas Recherche finde ich heraus, dass noch ein Bus nach Ueckermünde fährt, den erwische ich – zusammen mit einem freundlichen Paar mit Hund. Wir kommen ins Gespräch: Er ist pensionierter Arzt, hat aber parallel zur Medizin Elektrotechnik studiert, betreibt eine Reparaturwerkstatt für Akkordeons und spielt überhaupt eine Menge Musikinstrumente. Seine Gattin hat ihm zum Rentenbeginn vorgeschlagen, seine Lust auf Abwechslung auf einem historischen Dreimaster auszuleben. Er heuerte an, jetzt klettert der mittlerweile 75-Jährige als Matrose in vierzig Meter Höhe in den Wanten eines 120 Jahre alten Seglers herum und lässt sich den Atlantikwind um die Nase blasen.
Menschen können so verschieden sein: Die einen verkörpern das Wort „Nein”, und erstarren in Seele und Geist. Die anderen bleiben neugierig und haben bis ins hohe Alter Appetit auf Abenteuer.
Deichlauf ins Donnerglück
Kurz vor der Dämmerung schließe ich mein Hausboot auf, springe in die Laufschuhe und renne über den Deich. Als ich zurückkomme, stürzt der Himmel nieder: auf der Bugterrasse genieße ich das Gewitter. Die Freude am Leben lasse ich mir nicht von Verordnungsfetischisten und Temperaturterroristen schmälern. Das steht für immer in Teil I meiner Lebensführungsverordnung.
Und in Teil II auch.
Ich sammle für einen guten Zweck: Habe ich genügend Geld zusammen, buche ich einen Crashkurs zum Fahrdienstleiter in Pasewalk!
Was ist Dein Ausweg aus dem Neuland?
Bonustrack: Pasewalk – das Mailand des Nordostens
Münzsprotzende Orgasmen im Groschengrab
Pasewalk: Die Melancholie dieses alten Bahnhofgebäudes ist greifbar. Den einzigen Kaffee gibt es in der Spielhalle. Drinnen ist es dunkel und warm. Ein einzelner Herr schaut liebend in mehrere rotierende Kästen, deren Blinkbuttons er rhythmisch streichelt. Er ist der Don Juan der groschenschluckenden Ratterkästen. Da schwebt eine Lust um ihn, die sich verlaufen haben muss: Vor den Apparaten stolziert auf und ab, als würde er glauben, dass sie ihn mit münzsprotzenden Orgasmen zum Chefliebhaber auszeichnen. Der nette Mann hinter dem Rundtresen trägt ewiges Mitleid im Blick. Er gibt sich Mühe mit dem Filterkaffee und dem ToGo-Becher. Wie benommen lasse ich die Spielhalle hinter mir und widme mich wieder dem Spiel meines Lebens.
Dejavu, vor einem Jahrzehnt schrieb ich diesen Jazz-Song, der in einer Bahnhofsspielhalle spielt:
DER ALTE ANÄSTHESIST
Wieder Montagmorgen,
durch den Bahnhof zieht ein kalter Wind.
Hunderte von Fremden
auf ihrem Weg ins Großstadtlabyrinth.
Wieder Montagmorgen
im Automatencasino bei Gleis drei,
der alte Anästhesist macht einen Freudenschrei.
Nur noch ein paar Runden,
er hat das Glück im Würgegriff
und in ein paar Stunden,
wenn der Gerichtsvollzieher äußerst trif-
tige Gründe nenn'n wird,
um zu pfänden, wird der
Anästhesist ihn
mit prall gefüllten Händen
bezahlen und vergessen.
Ja, der Weg nach Acapulco
ist nur ein paar Sprünge weit.
Hundert Sonderspiele, null Todesangst mehr,
die Freundschaft zum Glück ist der Schlüssel zur Zeit
ohne Druck und zur Leichtigkeit.
Töchter schöner Mütter
mit bunten Blumen hübsch im Haar
singen sanfte Töne am Strand,
das Meer ist seicht und sonnenklar.
Lass dich nicht erschüttern,
ruft er sich hoffnungsvoll zu,
manchmal braucht es etwas länger
für den großen Coup.
Jetzt ist Montagabend,
die Leute komm'n vom Tag zurück.
Hunderte von Fremden
freuen sich auf den Zuhause-Augenblick.
Manche schlurfen, manche schlendern,
manches ist heut nicht zu ändern,
der Gerichtsvollzieher berichtet seinen Fall
und eine Spielautomatenmelodie
ertrinkt im Bahnhofshallenhall.
Liste der neuerfundenen Wörter im 206. Sonntagskind:
Behördenblockade, Abenteuerappetit, frühstücksliterarisch, Mentalinjektion, Wissensluft, eisenbahnen, Freizeitkapitänspatent, Frohmut, Reichsbahnscherge, Gulagschaffner, Lebensführungsverordnung, Blinkbuttons, münzsprotzend, Chefliebhaber.
A U S D E R K A J Ü T E D E R E R K E N N T N I S
I. Ein Schaffner mit Frost im Herzen ist eine Einladung, sich warm zu lachen.
II. Verpasste Züge sind schnell vergessen, an eine schöne Begegnung erinnert man sich ein Leben lang.
III. Kaffee nur im äußersten Notfall in der Spielhalle kaufen.
PS: Am kommenden Sonntag, dem 21. September, lese ich Sonntagskindkolumnen und singe ein paar Songs am Vintage-Piano. Zum späten Frühstück um 17 Uhr, im Showfenster Reinickendorf in Berlin. Ich freu mich auf Euch. Einlass nur nach Beantwortung der Masterfrage:
Wo findet sich das Bekenntnis zum Glück?
a: In Teil II der Lebensführungsverordnung
b: In Teil I der Lebensführungsverordnung
Meine Herrenclutch stelle ich in diesem Sonntagskind vor:
Die generische Handtasche
Ich war früher mal Ballettrepititor im Theater. Da habe ich jeden Morgen 90 Minuten die Tänzerinnen und Tänzer am Klavier begleitet. Die Balletmeisterin kam aus London, vom Royal Ballet, sie war sehr streng. Nach meinem ersten Arbeitstag knallte sie mir einen Stapel Noten auf den Flügel und sagte: „Übe dies!“. Ihr missfiel, dass ich die ganze Musik impr…