In der amerikanischen Fernsehserie „Curb your Enthusiasm“ spielt Larry David, ein erfolgsverwöhnter Comedy-Autor ohne jegliche Geldsorgen, sich selbst: einen fürchterlichen Zwangscharakter, der seine Mitmenschen brüskiert. Die komplexen kommunikativen Netze um sich herum zerstört er. Unabsichtlich zwar, aber immer zum Fremdschämen schlimm und mit verheerendem Effekt. Es macht mir Freude, ihm zuzuschauen, wie er sich über jegliche Konvention hinwegsetzt und alle gesellschaftlichen Dos and Don’ts sabotiert. Schließlich fühle ich mich oft wie ein Gefangener meiner Umgangsformen. Manchmal wünschte ich mir, ich wäre selbst ein bisschen wie Larry David.
Vor einiger Zeit traf ich eine Freundin wieder, fast sechs Jahre haben wir uns nicht gesehen. Wir verbrachten ein paar Stunden auf der Terrasse eines Cafés, es gab viel zu bereden nach der langen Zeit. Während unseres Gesprächs fiel mein Blick immer wieder auf ein auf einer Staffelei ausgestelltes Gemälde vor einem kleinen Laden nebenan. Auf dem Bild war in einer Mischung aus Naturalismus und Neon-Pop-Art das Gesicht einer lockenumrankten Blondine mit unanständig pornösem Gesichtsausdruck gemalt. In der Nähe ihres halbgeöffneten Mundes hielt sie ihre Hand mit den roten Krallen. Im unteren Teil des Bildes stand der Satz: „Kenne deinen Wert”. (Ich wollte das Kunstwerk photographieren, aber die Dame aus dem Geschäft machte mich auf ein „No Photos please”-Schild aufmerksam.) 1
Wir spazierten anschließend durch den Park, dann aßen wir noch gemeinsam zu Abend bei ihr zuhause. Schließlich ist viel passiert seit 2018.
Als ich bei Dämmerung nach unserem Wiedersehen in der Eisenbahn saß, wusste ich alles von ihr: ich hatte Einblick in die Machtkämpfe und -spiele ihres beruflichen Alltags und wurde im Laufe des Gesprächs Experte für sämtliche Details ihrer seelenzermürbenden On-Off-Beziehung. Alles, weil es mich interessiert und ich schließlich auch gefragt habe.
Trotzdem dachte ich beim Starren auf die vorbeirauschenden Baumwipfel hinter dem Fenster des Regionalzugs: sie hat nicht ein einziges Mal gefragt, wie es mir geht, was ich so mache. Dabei waren meine vergangenen sechs Jahre auch nicht ohne: ich habe zwölf Monate im Hotel gelebt, eine Symphonie komponiert, war für den Kinderwunsch zweier lesbischer Freundinnen Samenspender, habe ein Album mit Jazz-Chansons rausgebracht und auch mein Liebesleben ist gar nicht so langweilig. Das aber blieb ein Geheimnis an diesem Kampftag der einseitigen Kommunikation.
Larry David hätte die Rolle des aktiven Zuhörers wohl keine Minute lang ausgehalten. Schon nach wenigen Sätzen wäre er seiner Gesprächspartnerin ins Wort gefallen und hätte das Thema mit radikaler Unsensibilität auf etwas schmerzlich Banales gelenkt.
Im Finale der 3. Staffel sorgt Larry David überraschend für einen Moment kollektiver Befreiung: während der Eröffnung eines neuen, sehr schicken Restaurants entpuppt sich der in einer offenen Küche arbeitende Chefkoch als Tourette-Patient. Mitten in die vergnügte Konzentration der speisenden Gäste ruft der Maître de Cuisine harte sexualisierte Schimpfworte. Die plötzliche Stille wiegt tonnenschwer. Dann tut Larry es ihm gleich und schreit eine äußerst rüde Beleidigung unter die kronleuchterbehangene Decke. Es dauert nicht lang, da stimmt das ganze Restaurant freudig mit ein, alle fluchen fröhlich und geben ihrem angestauten seelischen Unrat eine angemessene Stimme. Das möchte ich jetzt auch tun. Mit dieser heutigen Sonntagskind-Kolumne. Wer jetzt das Abonnement kündigt, dem sei ein liebevolles „Fuck you“ hinterhergerufen, ich kenne nämlich meinen Wert. Euch allen einen herrlichen Sonntag,
Euer Mark
Ich danke sehr fürs Lesen und Anteilnehmen. Seit Sommer 2021 veröffentliche jeden Sonntag ein Stück Frühstücksliteratur. Ich hoffe, das macht Freude. Ich unternehme keine Werbung. Wer hier landet, folgt wahrscheinlich einer Empfehlung. Das ist eine tolle Sache. Wer möchte, schreibt gutgelaunten Freundinnen und Freunden eine Mail mit dieser Sonntagskindkolumne:
Auch freue ich mich über finanzielle Zuwendungen. Dann kann ich das Bild mit dem Spruch vielleicht doch noch kaufen.
Ansonsten: einfach abonnieren! Garantiert jeden Sonntag, tourettefrei und in bester kommunikativer Absicht geschrieben.
Kurz vor Veröffentlichung habe ich die Künstlerin und ihr Werk gefunden. Dieses Internet ist wirklich eine tolle Sache.
Danke für den Serientip !
Wie so oft, ein inspirierender Artikel aus dem täglichen Leben. Ich kann Dein Gefühl so gut nachvollziehen. Wie kann man stundenlang erzählen, ohne den oder die gegenüber was zu fragen? Man könnte es lösen, indem man selber was von sich erzählt aber all zu oft, wird dieses nur als Stichwort für wiederum eine eigene Geschichte instrumentalisiert. Ich frage mich, ob die Menschen, einfach so viel zu erzählen haben und wenig Gelegenheit, weil kaum jemand zuhört oder ob sie sich einfach nicht für den Gesprächspartner interessieren.
Man sollte dem wohl mit Wohlwollen begegnen und das Beste vermuten. Dennoch ist es schade, denn die Grundregel für einen selbst sollte doch immer sein, dass man weniger erzählt und mehr fragt. Dann wird sich das Geschehnis schon von ganz alleine auf die interessantesten Themen bewegen.
Nun denn, es bleibt das Gefühl, jemanden ein Ohr geschenkt und ihm damit wahrscheinlich eine gute Zeit gegeben zu haben. Das ist auch was Wert. Schönen Sonntag...