Opium fürs Volk / Putins Pussycats
Von Fieber und Verlust
Ich habe Corona. Drei Jahre lang war ich sicher, nicht zu den gewöhnlichen Menschen zu gehören, die von diesem Allerweltsvirus erreicht werden können. Jetzt erfährt mein Erhabenheitsstatus einen Downgrade auf „Keine Extrawurst“.
Wenigstens wird der Prestigeverlust von schönen Fieberhalluzinationen begleitet. Sie erinnern an psychedelische Drogentrips – der Tanz der Gedanken ist sehr unterhaltsam. Alles, was mir Spaß macht, wird von der Entertainmentabteilung meines Gehirns in einer surrealen Collage serviert. Warme pulsierende Streicherakkorde klingen zu Jazzrhythmen in Zeitlupe. Triefende Natursensationen mit Papageien, satten Baumkronen und türkisem Schaumwasser, dazu Streichelwind. Lustvolle Blicke und erotische Spontanvereinigungen in Trance. Ich muss zugeben: Corona ist Opium fürs Volk, auch für mich. Bevor jetzt jemand schimpft: ich bitte um Nachsicht, in meinem Zustand bin ich nicht voll reflektionsfähig. Natürlich ist Corona auch schrecklich und hat Millionen Menschen umgebracht. Opium aber eben auch.
Hier der Fiebertraum am Strand. Blitzschnell umgesetzt von der KI mit dem namen Dall-E.
Heute Vormittag habe ich versucht zu meditieren. 10 Minuten lang den Gedanken freien Auslauf gönnen. Die Neubesaitung des Flügels wechselt sich mit der Einkommenssteuer 21 ab, dann sehe ich Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer mit leuchtenden Augen auf einer S/M-Party mit Wladimir Putin. „Er ist ein krasser Typ, aber Wladi sieht uns. Er versteht unsere Lust. Er ist irgendwie ein Künstler.“ Die beiden geben sich sich dem diabolischen Sextyrannen hin. Die ehemalige RBB-Intendantin steht auf einem Siegertreppchen und beantragt Projektmittel für einen Dokumentarfilm über Altersarmut bei missverstandenen Führungskräften. Michel Houellebecq raucht in einem Himmelbett und befiehlt Wladi, Alice und Sahra zu sich. Auf arabisch.
Ich habe die Instanz über die Bilder meiner Meditation informiert, das ist ihre Interpretation. (Dall-E und Jasper.ai)
Als über allem Irdischen schwebender Künstler habe ich mir in meinen 20ern angewöhnt, Politiker gering zu schätzen. Vielleicht schwingt das in meinem Fiebertraum noch ein bisschen mit. Mir erschien früher das Treiben der unansehnlichen Männer in schlechtsitzenden Anzügen so, als ob Versicherungsvertreter versuchten, eine Oper aufzuführen, ohne dass es eine Melodie gibt. Außerdem kann niemand singen. Ein marihuanaindizierter Überzeugungsmoment gebar dann die folgende Sichtweise: „Politik ist der Versuch, privates Misslingen in größere Dimensionen zu übertragen und dort auch nicht hinzubekommen.”
Diese dreiste Naivität konnte ich lange pflegen. Seit einigen Jahren informiere ich mich aber heimlich über die Konsequenzen meiner Wahlentscheidungen. Eine meiner liebsten Quellen ist die RBB-Talkshow „Thadeusz und die Beobachter“. Da bespricht Moderator Jörg Thadeusz mit zwei Damen und zwei Herren aus dem politischen Journalismus die Themen der Gegenwart. Die haben alle viel mehr Ahnung als ich, und trotzdem ganz unterschiedliche Standpunkte. Mir bringt das was. Ich liebe den Sturm, der in meinem Kopf tobt, wenn ich die eine Sichtweise verstehe, nachdem mir gerade eine gegenteilige schmackhaft gemacht wurde. Durch die Kompetenz der sanft rivalisierenden Wissenden steht am Ende jeder Sendung immer der Gewinn von Erkenntnis. Das unterscheidet die Sendung von den üblichen Talkshows, in denen Gäste ihr persönliches Meinungsschaufenster vorführen, ohne sich miteinander um Einsicht zu bemühen.
Jetzt stellt der dumme RBB die Sendung zum Ende des Jahres ein – eine der spannendsten Städte der Welt wird zur Heimat der langweiligsten Fernsehanstalt aller Zeiten. Ich bin gespannt, wann der RBB auf Schwarzweißfernsehen umstellt.
Draußen auf dem Stuttgarter Platz demonstrieren schon wieder Leute dafür, dass die Ukraine endlich aufgeben soll, damit wieder Ruhe ist. Ich gehe zurück zu meinem Fiebertraum. Das Delirium ist gerade einfach schöner als die Realität.
Lieber Mark,
Nachdem ich deine Kolumne zu Ende gelesen habe, kann ich dich beruhigen: DEIN Corona ist definitiv was anderes als meins. Andere Liga, völlig klar! Gute Besserung, dennoch :-*