Einen wunderschönen Sonntag, liebste Sonntagskindgenießerinnen, Weekend-Bonvivants und Frühaufsteher – herzlich Willkommen auch den vielen neuen Abonnierenden, die in der letzten Woche Teil dieser vorzüglichen Mailgemeinschaft geworden sind. Ich freue mich, Euch ab jetzt wöchentlich Frühstücksliteratur servieren zu dürfen. Heute schreibe ich Euch aus einem verregneten Alpental in der Nähe von Grenoble. Der Holzofen bollert, die Wolken hängen in den Bäumen – bei dieser Aussicht kann es nur um eines gehen:
In meiner letzten Kolumne kam die Oper vor, genauer gesagt, die „Orgasmusoper“. Victoriah Szirmai schreibt auf Facebook, sie hätte versehentlich Orgasmusopfer
statt Orgasmusoper gelesen. Diese originelle Missinterpretation lässt mir keine Wahl. Ich muss das heute Sonntagskind dem von Boulevard und Wissenschaft bisher ignorierten Phänomen des Orgasmusopfers widmen. Der Begriff wird derzeit in unterschiedlichen Kontexten auf verschiedenen Bedeutungsebenen verwendet:
ein Orgasmusopfer bringen. Man kriegt einen Orgasmus nicht geschenkt, dafür muss man schon etwas aufgeben (opfern). Zum Beispiel den Verstand, die Schüchternheit oder seine Prinzipien.
ein Orgasmusopfer bringen. Man verzichtet auf seinen Orgasmus zugunsten des Orgasmus’ einer anderen Person: Tabea kommt wie immer zu früh. Dann dreht sie sich um und schnarcht. Horst zieht mal wieder den Kürzeren, aber aus Liebe bringt er gerne dieses Orgasmusopfer.
ein Orgasmusopfer sein. „Verpiss dich, du Orgasmusopfer!“ Beliebte Beleidigung unter kaltherzigen Jugendlichen. Gemeint ist: Orgasmusopfer = Abfallprodukt eines elterlichen Beischlafs. Löst das in den 80er Jahren gebräuchliche Schimpfwort „Missgeburt“ ab.
ein Orgasmusopfer sein. Jemandem als Sexobjekt zur Verfügung stehen. Googeln des Begriffs führt direkt auf die xHamster-Seite einer Erwachsenenfilmdarstellerin mit dem Pseudonym „DaddysLuder“. In ihren Filmen wird erstaunlicherweise nicht gesungen, mit der Oper hat das alles nichts zu tun.
Der Orgasmus war für mich immer schon eine Riesensache. Am 11. März 1981, da war ich fast 13, hatte ich meinen ersten Orgasmus: nach einer Anleitung in der Bravo habe ich ihn mir selbst ermöglicht. Das Gefühl war überwältigend, mein Leben hat sich schlagartig geändert! Ich sah am nächsten Morgen einen anderen Mark im Spiegel: der schüchterne Außenseiter ist einer Sinnesexplosion zum Opfer gefallen – ich fühlte mich wie ein prachtvoller Edelschmetterling, mein Leben hatte einen Sinn! Die Schule, die Erwartungen meiner Eltern, der ganze graue Mist da draußen lag jetzt wie die nutzlose Hülle der Raupe, der ich entwachsen war, im Müll. Eine Superkraft hat sich meiner bemächtigt: Orgasmus!
Ich bin altmodisch: den Tag feiere ich wie meinen Geburtstag. Einmal wollte ich im Berliner Admiralspalast meinen 30. Orgasmusgeburtstag mit einer großen Gala begehen, mit vielen Gästen. Zu dieser Zeit spielte ich im Admiralspalast regelmäßig die „Berlin-Revue“ mit meinem Showorchester. Die Veranstalter waren allerdings gar nicht begeistert. Sie meinten, es wäre ungehörig, seine Sexualität so ins Zentrum einer Show zu stellen, und außerdem peinlich. Ich ärgere mich, dass ich damals die tolle Idee der Orgasmusgala dem trübsinnigen und entsexten Erwachsenenbedenkengemäkel aus der Büroetage geopfert habe. Vielleicht versuche ich es zum 50. Jubiläum nochmal, ich frage dann aber im Konzerthaus am Gendarmenmarkt oder in der Philharmonie. Der Admiralspalast war schon immer nur ein Tingeltangelschuppen ohne Stil und Finesse!
In der Zeit meiner Adoleszenz war der Orgasmus ein beliebter Gegenstand in sogenannten Herrenmagazinen. Als frischgeschlüpfter Schmetterling musste ich an alle diese Blüten ran: Playboy, Penthouse, Lui. Es ging in den Artikeln der Zeitschriften aus dem obersten Regal viel um Tantra, Meditation, um den Kontakt der Seele zu einem großen Reich der Lust, zu dem wir über den Orgasmus Zutritt erlangen können.
Ich glaube, die Hefte waren damals besser als ihr heutiger Ruf. Einen Teil meiner sexuellen Bildung habe ich jedenfalls den Redaktionen dieser semipornographischen Blätter zu verdanken. Ich las Artikel über die Magie des gemeinsamen Kommens, über das Hinauszögern des sinnlichen Gipfels, über die Verbindung von Lust und Geist. Ich lernte Techniken, die ich erstmal ganz alleine ausprobierte und die mir später schon einen erotischen Grundhorizont für die ersten sexuellen Begegnungen mitgegeben haben.
In einem Monat ist es wieder soweit, dann jährt sich der 11. März 1981 zum 43. Mal, ich werde dieses lebensverändernden Tages gedenken – und erkennen, dass die Chance, in Anstand und Würde zu altern, meiner frühen Lustfixierung zum Orgasmusopfer gefallen ist. Euch wünsche ich einen entspannten Sonntag im Fieber der Begierde und einen erfreulichen Ausblick vom Gipfel der Lust!
Herzlich aus den Alpen, bis zum nächsten Sonntag,
Euer
Liste der neu erfundenen Wörter in dieser Kolumne: Orgasmusopfer (Victoriah Szirmai), Edelschmetterling, entsext, Erwachsenenbedenkengemäkel, Orgasmusgala.
Nur für meine lieben Sonntagskindleserinnen und -leser: Hier ist mein zurzeit nirgendwo sonst zu bekommender Song „Bitte keine Eile“ vom Album „Haus aus Liebe“. Aufgenommen 2010 im Admiralspalast, kurz vor dem 30. O-Tag. Er ist sehr langsam und feiert die Umnachtung der lustvollen Zeitlupe, also quasi Orgasmusoper. Mit diesen Worten:
Bitte keine Eile, wir haben Zeit.
Lust braucht Ruhe, langsam, langsam.
Kein Grund, zu treiben, lass uns genießen.
Schön, gut und kräftig,
laut, wild und heftig!
Satt, reich, tief und schlimm,
genießen wir den Lebenssinn.
Gefällt dir das Lied? Ist es langsam genug?
Danke fürs Lesen, liebe Damen und Herren, das bedeutet mir eine Menge! Ich freue mich, auf diese Weise mit euch verbunden zu sein. Sonntagskind ist gratis, ich habe kein Budget für Werbung – darum erlebe ich jedesmal einen sinnlichen Höhepunkt, wenn jemand von euch Sonntagskind empfiehlt; die Kolumne per Mail weiterleitet, einen Post auf Facebook oder Instagram entwirft. So wächst die Gemeinschaft. Danke!
Dass einige von euch mir hin und wieder die Freude machen, meiner Frühstücksliteratur mit einer finanziellen Zuwendung zu begegnen, empfinde ich als ungemein lustvoll. Wer bis zum 10. März 2024 eine Kleinigkeit spendet, bekommt ein mindestens vierzeiliges erotisches Gedicht auf der Grundlage des eigenen Namens!
Ich finde, wer jetzt noch nicht abonniert hat, sollte dies ein für alle mal tun:
Wer hier neu ist, möchte vielleicht ein bisschen stöbern: hier eine Auswahl einiger Sonntagskindkolumnen, die besonders gern gelesen werden: