Liebe Freundinnen und Freunde der tiefschürfenden Frühstücksliteratur,
ich war in der Komischen Oper in Berlin: Orpheus in der Unterwelt von Offenbach! (Das ist das Stück mit dem Can-Can.)1 Leider, so hieß es seitens der Veranstalter, müsse die Vorstellung konzertant stattfinden. Der Streik der Dienstleistungsgewerkschaft betraf auch die technischen Gewerke, also Bühne, Kostüm und Licht. Vor Vorstellungsbeginn wurden wir noch darüber aufgeklärt, dass das Ensemble im Laufe des Tages eine Not-Version zusammengebaut hat, um das Stück unter den schwierigen Bedingungen trotzdem auf die Bühne zu bringen. Diese Inszenierung von Barrie Kosky ist als Kostüm- und Ausstattungsinferno bekannt. Die Reduktion auf ein minimalistisches Spiel auf leerer Bühne würde also besonders drastisch sein.

Ein kleiner Zeitsprung: eine Woche zuvor war ich in der Deutschen Oper zur Kindervorstellung. Märchenoper „Die Schneekönigin“ von Samuel Penderbayne. Opernsängerinnen bemühen sich meist nicht um ihr Publikum, es ist schließlich schon da. Das Ensemble der Deutschen Oper aber kämpfte um die Aufmerksamkeit der Kinder wie Koberer auf der Reeperbahn. Die Sängerinnen, Sänger haben alles gegeben: getanzt, grimassiert, gerufen und geflirtet, um die Kinder rumzukriegen und zu begeistern. Sie vergessen zu lassen, im Theater zu sein. Ich habe geweint vor Glück. Warum erlebt man diese Spielfreude, diese Lust, mitzureißen so selten bei Tannhäuser, Tosca und Turandot?
Mein Freund Rainer Glaap schreibt in seinem Blog über den Publikumsschwund in Theater und klassischem Konzert: von zehn Leuten, die zum ersten Mal in die Oper gehen, kommen neun nicht wieder. Ich wette, die Schneeköniginnenkinder verbessern die Statistik. Wahrscheinlich fühlen sie sich bei ihrem zweiten Opernbesuch allerdings wie in der Geisterbahn, denn:
Sopranistinnen machen „Üüüüüü“2 und rudern mit den Armen;
Der Tenor hebt langsam die bebende, geöffnete Shakespearehand;
Sehr dicke Menschen mit riesigen Stimmen bewegen sich kaum, obwohl die Rollen, die sie spielen, doch gerade von Todesangst, alles auffressender Eifersucht oder Mordlust gepeitscht sind.
So wird es sein – es sei denn, die Kinder gehen in die Komische Oper zu Orpheus in der Unterwelt! So ein bedingungsloses Verlangen, das Publikum in einen Sturm aus Emotionen zu werfen, vermisse ich sonst auf der Opernbühne. Klar, Offenbachs Orpheus ist eine Operette mit viel Nonsens und pointierten Dialogen, aber die Figuren leben. Die Sängerinnen und Sänger singen, um extreme Charaktere erlebbar zu machen – so scheint es mir. Sie singen nicht, um für ihre Stimmgewalt und Virtuosität gefeiert zu werden, sie singen, um zu berühren. Sie wollen was von mir. Das haut mich um, denn bei diesem Theater fühle ich mich gemeint.
Der überhebliche Jupiter ist genauso ein Schnösel wie ich selbst manchmal. Die erotisch verhungernde Eurydike, die sich mit ihrem nerdigen Gatten langweilt, erinnert mich an das schlechte Gewissen, das ich habe, wenn die Arbeit mal wieder vorgeht. Auch im dauerbesoffenen Styx erkenne ich mich wieder: der liebeskranke, in Formvollendetheit erstarrte Diener ist vor allem ein Sklave seiner mangelnden Courage – und dauernd auf der Flucht vor sich selbst. Was für ein Abend!
Und das haben diese Theaterkönner selbst in der einmaligen Not-Fassung mit einem spielwütigen Chor in Privatklamotten und ein paar Sesseln auf die Bühne gebracht. Liebe Sonntagskind-Lesende, es gibt noch ein paar reguläre Vorstellungen, bitte geht hin. Und schreibt mir, wie es war. Nun wünsche ich viel Freude beim Can-Can-Tanzen, das geht auch ganz hervorragend auf dem Frühstückstisch.
Dem Can-Can bin ich das erste Mal in der genialen Fernsehserie „Kir Royal” von Helmut Dietl begegnet. Dort lässt Klatschreporter Baby Schimmerlos die Möchtergernprominenten der Münchner Schickeria in einem Wichtigtuer-Restaurant auf den Tischen tanzen. Mit der berühmten Can-Can-Choreographie.
Siehe diese Kolumne über den Besuch einer „Tannhäuser”-Aufführung:
Schick diese Kolumne unbedingt an Theatergegner und Opernmuffel:
Sonntagskind macht einen Haufen Arbeit. Am liebsten wäre ich Privatier; einer, der jeden Tag von den Zinsen seines Vermögens in den teuersten Restaurants essen geht. Ich muss das irgendwie so hinkriegen. Wer möchte, hilft mir dabei:
Werde Teil des elitären Zirkels, der jeden Sonntagmorgen die frisch geschriebene Kolumne bekommt:
Lieber Mark,
danke für die Erwähnung!
Den Can Can habe ich in bester Erinnerung. Anfang der 80er habe ich einige Jahre ein Kulturzentrum mit Schauspielschule in Köln mit aufgebaut, das Pallä Lüx (an der Luxemburger Straße). Unsere Feste waren legendär, nicht zuletzt, weil die Studierenden um Mitternacht immer einen sprühenden Can Can aufs Parkett legten.
Übrigens gibt es gerade auch am Theater Bremen einen Orpheus. Der Can Can war der Regie aber möglicherweise zu langweilig, also hat man ihn weggelassen, bzw. die Sänger:innen auf der Bühne hören ihn privat über Kopfhörer. Das habe ich allerdings nur der Rezension entnommen, ich bin gerade Opern-abstinent.
Schön, dass du so viel findest, was dich begeistert! Ich freue mich schon auf deinen Bericht von Florian Lutz' Carmen in Kassel!
Die Komische Oper Berlin ist für mich sowieso die beste,vor allem,wenn Barrie Kosky Regie führt. Merci für diesen anregenden Text. Ich habe diese Oper in voller Ausstattung noch vor dem Umbau gesehen, ein Augen-und Ohrenschmaus vom feinsten. LG aus Bremen 🥳