Verehrte Lesende des SONNTAGSKIND. Der Untertitel dieser Serie heißt „Freundliche Betrachtungen einer untergehenden Welt.“ Heute wollte ich die Apokalypse an der Tagesschau ausrichten. So sollte der Text beginnen:
„Samstagabend vor Pfingsten, 20 Uhr. Das große Thema der Tagesschau: Bayern München ist Deutscher Meister. Die ersten acht Minuten von Deutschlands wichtigster Nachrichtensendung gehören dem Fußball, es gibt nichts wichtigeres zu berichten. Dann geht es für vier Minuten um die Ausweisung russischer Diplomaten und die Stichwahl in der Türkei. Nach diesem intellektuell herausfordernden Informationsintermezzo zum Glück wieder Sportergebnisse bei Minute 12: Hurra, das deutsche Eishockeyteam zieht ins Finale ein! Dann Lottozahlen und Wetter.”
Ein Screenshot aus der Tagesschau: Deutsche Männer während eines gesellschaftlich bedeutenden Nachrichtenereignisses
Nach dieser spitzzüngigen Analyse wollte ich mich darüber empören, wie der fußballbesoffene Mob den offiziellen Nachrichtenkanal blockiert. Etwas hat mich aber davon abgehalten, die Bundesligamillionäre und ihr bierseliges Publikum in den Fokus dieser Frühstückslektüre zu nehmen. Über die große Saufgemeinschaft mit dem zweistelligen IQ-Durchschnitt wollte ich vom hohen Ross kultureller Überlegenheit die verbale Peitsche schwingen. Meinen Weltschmerz an dem grölenden Gesindel mit dem Elfmeterfetisch auslassen. Der seelenlosen Masse zeigen, wie erbärmlich ihre Leidenschaft ist.
Dass ich es unterlasse, hat etwas mit meinem eigenen Lebensstil der letzten Tage zu tun: Seit einiger Zeit komme ich aus der Jogginghose nicht mehr raus. Beim Entgegennehmen der Lieferandopizza fühle ich mich persönlich dafür verantwortlich, dass das Abendland untergeht. Die Tür öffne ich nur einen Spalt, um mein unrasiertes Verwahrlosungsantlitz nicht zu zeigen. Ich gebe ein übertriebenes Trinkgeld, aus schlechtem Gewissen – als Ablasszahlung für meine Selbstachtung, die zwischen den Pizzakartons und einem Haufen Magnum Mandel-Verpackungsfolien verlorengegangen ist.
In religiösem Wahn: ein Jünger der dominierenden Fußball-Elf
Wie kann ich mich, derart schlecht frisiert, über den hackedicht durch die Straßen ziehenden Bundesligapöbel erheben? Über Menschen, die so emotionalisiert sind, dass sie überall Pipi machen müssen, um sich ihrer Existenz zu versichern? Ich selbst narkotisiere mich schließlich mit alten Derrickfolgen, um der sogenannten Realität zu entfliehen. Meine Therapeutin würde bei unserer nächsten Sitzung die Vokabel „Projektion“ bemühen – weil es mein eigener Abgrund ist, den ich in den vollgesoffenen Mannschaftstrotteln sehe. Dann wäre sie verärgert und ich hätte nicht nur wegen der Sache mit dem Abendland Schuldgefühle. Sollen die Leute also feiern, wenn ihnen danach ist. Es gewinnt zum elften Mal in Folge der Verein mit dem meisten Geld, das ist ja nur fair.
Über Pfingsten heißt es in der Bibel:
„Da trat Petrus auf, zusammen mit den Elf; er erhob seine Stimme und begann zu reden: Diese Männer sind nicht betrunken, wie ihr meint. Über sie werde ich von meinem Geist ausgießen.“
Ich vermute, dass ich die religiöse Dimension von Fußball einfach nicht begreife.
"Ich vermute, dass ich die religiöse Dimension von Fußball einfach nicht begreife."
Ich bekenne mich schuldig.
Kuss und Freude:)