Verehrte Sonntagskindlesende, treue Frühstücksgemeinschaft! Heute will ich Euch einen Text unter den Obstsalat mischen, der entfernt mit KI zu tun hat. Unlängst schrieb eine Lady aus dem Entertainmentgeschäft auf Facebook, sie freue sich, wenn die KI ihre Wäsche macht, damit sie mehr Zeit für ihre Kunst hat. Sie will keine KI, die ihr die Kunst abnimmt, damit sie sich um die Wäsche kümmern kann. Ich fand das sehr erfrischend. Das hat mich an die Plagiatsunterstellungen erinnert, die posthum dem großen Rembrandt zugerufen wurden; er habe hier und da nur Anweisungen gegeben und seine fleißigen Studenten im Rembrandtstil schuften lassen. So etwas sagt man heute über den Filmmusikkomponisten Hans Zimmer. Ob’s stimmt? Wir werden es am Ende dieser nur der Unterhaltung dienenden Kolumne1 nicht wissen.
In der Berliner Gemäldegalerie hängt das berühmte Portrait „Der Mann mit dem Goldhelm“. Mehr als 300 Jahre lang stiegen Wert und Status dieses Meisterwerks des berühmten Niederländers Rembrandt van Rijn unaufhörlich. Bis Mitte der 1980er Jahre. Dann kamen Schlaufüchse aus der Expertenwelt. Die sagten: es steht zwar „Rembrandt“ drauf, gemalt hat das Bild aber werweißwer. Von da an ging es rapide bergab mit dem Goldhelmkurs.
„Ist ja nur Fake“ denken die Leute jetzt und gehen lieber zu den Dürerzeichnungen, da gibt es keinen Zweifel an der Urheberschaft. „Genial, dieser Federstrich! Kein Vergleich zu dem mittelmäßigen Stil und dem viel zu fetten Impasto bei dieser erbärmlichen Rembrandtkopie!“ Vorher war „Der Mann mit dem Goldhelm“ ein Star – Kopien hingen, barock gerahmt, in unzähligen Stuben und bildeten ab, wie man sich gern sah. Womöglich dachte man, unter einem goldenen Helm wohnten nur die edelsten Gedanken. Der enorme Rangverlust des legendären Gemäldes war für viele ein Schock. Es ist zwar noch immer dasselbe Gemälde, nur hat es seit dem Experten-Diss seine Sexyness eingebüßt.
Wie sich der Mann mit dem Goldhelm im gleichnamigen Bild daraufhin fühlt, können wir nur erahnen. Ich schätze, er ist verletzt. Ich habe eine KI gebeten, seine Gedanken auszurechnen, das Ergebnis zeigt ihn als verletzte Figur der Öffentlichkeit, von Bitterkeit geschlagen und neidzerfressen:
Die Menschen standen Schlange, für mich standen sie Schlange!
„Genial“ flüsterten sie, „so gut wie Rembrandt malt sonst keiner.“
Dann kamen die Schlaumeier, die selbst kein Werk zustande bringen
und tönten rum, ich sei kein Rembrandt, nur ein Bild von einem Niemand.
Jetzt ignorieren sie mich und drängen in das stillose Getümmel
vor Caravaggios blödem Amor mit seinem kleinen Pimmel.
Das Bild vom Mann mit dem Goldhelm ist seit dem Fakevorwurf weg vom Fenster sensationslüsterner Windowshopper. Umgekehrt ist es beim Anorak.
1989, kurz nach dem Fall der Mauer, tauchten in meiner Heimatstadt Bremen die ersten Menschen aus der DDR auf. Sie waren leicht an ihrer Kleidung zu erkennen: man hatte den Eindruck, das Modeangebot im Sozialismus reichte nicht aus, um seine eigene Erscheinung individuell und geschmackvoll zu gestalten. Man spürte eine beklemmende Mischung aus Mitgefühl und schlechtem Gewissen: man schämte sich, Äußerlichkeiten so hoch zu bewerten. Schließlich war man im Westen nicht gewohnt, irgendetwas nicht kaufen zu können. Im Osten wurden damals vor allem Anoraks und Windjacken getragen. Irgendwie wurden diese im Verlauf der 90er Jahre als unfreiwilliges Bekenntnis zu modischer Bildungsferne interpretiert und waren schneller verschwunden als der Palast der Republik abgerissen werden konnte.
Dass sich Zwangskleidung zum modischen Hype hochpushen lässt, wissen wir, seit Berliner Berufsjugendliche Turnschuhe ohne Schnürsenkel tragen. In amerikanischen Gefängnissen sind Schnürsenkel verboten, weil sie auch als Suizidwerkzeug einsetzbar sind. Genau wie Gürtel, deswegen trugen ja soviele Menschen (überwiegend Herren) eine Zeit lang ihre Hosen auf halb 8. Dieser Tage erleben wir eine Renaissance des Unterschichtenjackets: der Anorak ist zurück! In den woken Clubs in Berlin-Mitte, vorm Späti in Neukölln und im Kitkat hört man das charakteristische zärtliche Schleifen des Nylons.
Noch in der vorigen Saison hätte man keinem 10-Jährigen mit einem Zebra-Anorak kommen können. Allenfalls der spießigen Erbtante hätte ein durchschnittliches Kind nach elterlichem Beschwichtigungsgespräch ein Windjackenmitbringsel von Peek & Cloppenburg durchgehen lassen. Und dieses mit Schaudern bei jedem Verwandtschaftsbesuch vorgeführt, verzerrt lächelnd, mit diesem Effekt: Durch die Fremdbestimmung erniedrigt, bekommt das Kind eine schlechte Körperhaltung und X-Beine. Als Folgeschaden der gebrochenen Mündigkeit gibt es noch ein nicht zu bewältigendes Zahnspangentrauma zwischen die hängenden Mundwinkel.
Plötzlich ist die ungeliebte Prä-Teenager-Kleidung aber der höchste Ausdruck genderübegreifender urbaner Mode. Was der Standardwetterschutz in der untergehenden DDR war, ist heute das Kleidungsstück, mit dem surreal gesinnte Großstädter einem konservativen Eleganzdiktat entgegenrascheln. Heute tragen selbst Trendavantgardisten die vormals stigmatisierte Kunststoffjacke vom unteren Rand der Gesellschaft. Hier ein aktuelles Photo der Kontrabassistin und Sängerin Natalie Plöger:
Wenn die stilbewusste Musikerin nicht in den Theatern und Clubs der Stadt jazzt, chillt sie gern am Alexanderplatz, seit ein paar Tagen nur noch mit ihrem geliebten Zebra-Anorak, Marke „Iriedaily“. Schätzungsweise dauert es noch ein paar Jahrzehnte, bis man in Berlin wieder einen goldenen Helm tragen kann, ohne für einen prätentiösen Kretin gehalten zu werden. Vermutlich wird vorher der Palast der Republik wieder aufgebaut.
Einen goldenen Sonntag wünscht
Euer Mark ❤️
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Diesen Text habe ich vor zwei Jahren geschrieben. Da wohnte ich ein Jahr lang im sehr schönen Berliner Hotel Art Nouveau. Hotelier Ingo Bethke hatte mir vorgeschlagen, jede Woche eine Kolumne auf der Hotelwebsite zu veröffentlichen, gegen einen Preisnachlass bei der Miete. Aufgrund unaufmerksamer Programmierung der Marketingfunktionen wurden meine Kolumnen von nahezu niemandem gelesen. Jetzt, wo ich im Internet berühmt geworden bin und jedes Sonntagskind etwa 1000 Mal gelesen wird, will dieser Text eine zweite Chance bekommen. Was meint Ihr, hat er sie verdient?
Natürlich , lieber Mark, verdienen auch deine älteren Werke ein zweites Leben. Herzlichen Gruss, J.