Die Legende um die Entstehung des Songtextes von “Santa Maria” geht so: 1977 hat Roland Kaiser mit „Sieben Fässer Wein“ den Alkoholikern mit Lust auf Herausforderungen einen hymnischen Evergreen geschenkt. Drei Jahre später reimten Roland Kaiser und sein Texter Norbert Hammerschmidt die Abenteuerreise von Christoph Columbus auf eine Erfolgsmelodie aus Italien. Das Schiff, mit dem Columbus sich 1525 nach Ostasien aufmachte und tatsächlich auf den Bahamas landete, hieß schließlich „Santa Maria“. Das Lied um die Geschichte des Eroberers, der Kuba mit Japan verwechselte, wurde produziert, die Plattenfirma aber war unzufrieden.
Sie drängte auf klassische Schlagerthemen: Sonne, Sand, sexy Sehnsucht, und zwar pronto, Freunde. Verärgert über die Zurückweisung der wenig geschichtsbegeisterten Musikhändler machten die beiden Künstler eines ihrer goldenen Weinfässer auf. Mit der Absicht, es den Trotteln von der Plattenfirma zu zeigen, trieben sie die übelsten Klischees auf die Spitze. Überzeugt, dass die Manager einlenken würden und sagen: „so war das nicht gemeint“, knallten die beiden nach einer schlaflosen Nacht ihre ironisch gemeinte Klischeecollage auf den Schreibtisch der Ariola in München. In dem berühmten Satz mit der Jugend in den Händen, der sich so gedankenlos wegsingt, romantisiert der Ich-Erzähler die Vergewaltigung einer minderjährigen Inselschönheit. Eigentlich die Steilvorlage für eine empörte Ablehnung, auch 1980 schon. Die Händler allerdings rochen den Hit und waren begeistert, die Autoren fassungslos. Der Sänger wehrte sich nicht. Er nahm den Song auf und thronte zum ersten und bisher einzigen Mal auf dem 1. Platz der Hitparade.
So hätte sich Richard Wagner Las Vegas vorstellen müssen
Seit ein paar Jahren gibt es Santa Maria auch als Musical. Im Erzgebirge läuft das Singspiel aus Kaiser-Hits auf der Freilichtbühne bei den Greifenstein-Festspielen. Eine stille Allee führt mitten in die Felsenlandschaft des alten Bergbaugebiets. In himmlischer Balance ruht eine Bühne vor tausend Sitzplätzen des Amphitheaters. Bunte Lichter und duftende Nadelbäume. So hätte sich Richard Wagner Las Vegas vorstellen müssen.
Sinnfreier Rausch mitten im Wald
Aus großen Lautsprechern drückt die Showband mit knautschigem Diskobass, es klingen die operettenerfahrenen Stimmen des Ensembles des Eduard-Winterstein-Theaters in Annaberg-Buchholz. Ich sitze in der ersten Reihe der Arenabänke, neben mir zwei auberginehaarige Mittsechzigerinnen, die unentwegt Miniweinflaschen vom Drogeriemarkt aufmachen und damit anstoßen. Beide lassen ihre Handys nicht los. Eine der Damen öffnet eine App mit Getränköffnungsgeräuschen. Sie scrollt über Bier und Wein zu Champagner, drückt auf das Bild mit der Flasche, die App spielt einen Korkenplopp und das entsprechende Schaumgeräusch ab. Sinnfreier Rausch mitten im Wald! Wagner wäre begeistert. Im Laufe des Abends sind die beiden alle 5 Minuten damit beschäftigt, Anrufe wegzudrücken, Whatsapps zu lesen, Videos aufzunehmen und zu verschicken und weiteren Billigrotwein zu öffnen. Neben mir sitzt ein Paar mit einem Kind auf dem Schoß, das unentwegt Chips mampft und zwischendurch schmatzend an einer Wasserflasche saugt. Auf der Bühne singt ein Bassbariton „Joanna – geboren, um Liebe zu geben“, in einem Clownskostüm mit Elvisfrisur, mit gigantischen Koteletten. Vor dem nebelumwundenen Tannenwaldpanorama kreist eine Discokugel. Ist sie die Metapher für die rätselhafte Welt, in der wir leben? Chorsängerinnen sitzen auf Eiscaféstühlen hinter ihren Notenständern die Zeit zwischen ihren Einsätzen ab. Über ihren goldenen Smokings tragen sie Privatanoraks gegen die feuchte Kälte in den Greifensteinen.
Gleitcreme fürs Glück
In der Pause eine fröhliche Schlange vor dem Toilettenhäuschen. Die meisten Leute lachen, schwatzen miteinander, leuchten mit ihren Augen und zeigen ihre natürlichen Zähne. Die Damen benutzen auch die Herrentoilette, weil da weniger los ist. Keiner meckert, alle lachen. Jeder hier scheint einen veritablen Schwips zu haben. Wenn diese Kolumne auch aus Entertainmentgründen einen ironischen Ton hat, ich bin begeistert vom Frohsinn der Menschen hier – und ich bin nüchtern. Die Lust zu feiern, anderen Menschen nahe zu sein und in der Musik dafür ein Gleitmittel zu finden, rührt mich an. Die Sehnsucht nach ausgelassenem Feiern, nach Leichtigkeit und Rausch ist riesig. In der Serie “Babylon Berlin” schauen wir unter Sehnsuchtstränen auf eine katastrophengeschlagene Gesellschaft, die sich gehenzulassen verstand. Der Traum vom Loslassen und im Flow sein ist universal. Hier ist er real. Ich bin hier ein Sonderling. Mit meinem Anzug, den Lackschuhen, der Herrenclutch. Trotzdem: ich schaue in freundliche Augen und singe schließlich mit. Santa Maria, Insel, die auf Träumen geboren.